
Zweifelhafte Macht der Gutachter: Sollen ärztliche Gespräche in Zukunft aufgezeichnet werden?
Wer krank ist oder schwer verunfallt und deshalb nicht mehr arbeiten kann, muss dies von einem Arzt abklären und bestätigen lassen. Der Arzt entscheidet dann, ob die Person weiterhin arbeitsfähig ist. Vor allem bei psychischen Krankheiten haben solche Gutachten ein hohes Gewicht: Versicherungen beurteilen auf deren Grundlage, ob jemandem eine Rente oder ein Krankentaggeld zusteht.
Das Problem: Stehen die Empfehlungen einmal fest, lässt sich kaum mehr daran rütteln. Es gibt Fälle, wo Patienten fehlerhafte Gutachten bis vor Bundesgericht zogen und dann verloren, weil das Gutachten formalen Ansprüchen genügte. Auf problematische Inhalte wie etwa fehlende Abklärungen wurde es aber gar nie geprüft. Die Richter verlassen sich in der Regel auf die Meinung des ärztlichen Gutachters, weil sie selber gar nicht über die Expertise verfügen, den Gesundheitszustand einer Person zu beurteilen. Thomas Ihde, Chefarzt für Psychiatrie an den Spitälern in Frutigen, Meiringen und Interlaken, bestätigt: «Es ist entscheidend, was ein Arzt im Gutachten festhält. Eine Rente hängt direkt von dessen Qualität und Inhalt ab.» Nachträglich lasse sich die Empfehlung des Gutachters nur selten noch ändern.
Neue Möglichkeit, ein Gutachten anzufechten
Das Problem der unterschiedlichen Qualitäten von Gutachten ist längst auf der politischen Ebene angekommen. Wenn sich heute der Ständerat mit den offenen Punkten zur Reform der Invalidenversicherung befasst, geht es auch darum, die Qualität der Gutachten zu verbessern. Eine der zentralen Fragen lautet: Soll es für das Gespräch zwischen Gutachter und Versichertem eine Tonbandaufnahme zur Qualitätskontrolle geben?
Aus Sicht der Betroffenen bedeutete eine solche Aufnahme eine klare Verbesserung der heutigen Situation. Der Behindertenverband Procap setzt sich unter anderem für die Aufzeichnung der Gespräche ein, weil sich die Klagen gegen die Gutachten häufen. Damit hätten die Betroffenen neu eine Handhabe, ein Gutachten anzufechten oder sich gegen die mangelhafte Arbeit eines Arztes zu wehren.
Von einer Verbesserung spricht auch Psychiater Thomas Ihde, der selbst Gutachten ausstellt und aus Erfahrung weiss, dass die Situation für die Betroffenen jeweils schwierig ist: «Das Vertrauen in die Gutachter ist gering, weil sie oft nicht als neutral wahrgenommen werden, sondern als Beauftragte der Versicherungen.»
Laut Ihde fühlen sich Betroffene ungerecht behandelt, weil sie gar nicht richtig angehört würden. «Wenn ein Gutachter-Gespräch nach 24 Minuten beendet ist, kann man davon ausgehen, dass der Patient nicht seriös abgeklärt wurde.»
Gutachter warnen vor verhörähnlicher Situation
Die Versicherungsmediziner bekämpfen die Tonbandaufnahme. In einem Schreiben an die Parlamentarier erklärt die interdisziplinäre Plattform für Versicherungsmedizin, welche Gutachter ausbildet, die Protokollierung sei kaum geeignet, um die Qualität von Gutachten nachhaltig zu verbessern. «Vielmehr wird sich ein neues Feld für konflikthafte und aufwendige Rechtsauseinandersetzungen ergeben.»
Ausserdem gehe es bei Gutachten um die «bestmöglichen Rahmenbedingungen», um sensible persönliche Daten zu erheben. Gerade bei psychiatrischen Problemen könnten die Versicherten nur schwer über das Thema reden. Eine Protokollierung störe die Vertrauensbasis, denn es werde eine «verhörähnliche Situation» geschaffen. Kurz und knapp: Das Erfassen der medizinischen Informationen werde erschwert oder gar behindert.
Gegen diese Auslegung wehrt sich Thomas Ihde. Er sagt, er zeichne die Gutachtengespräche bereits heute auf und habe ausnahmslos gute Erfahrung damit gemacht. «Wer die Versicherten seriös abklärt, hat nichts zu befürchten.» Es handle sich letztlich um eine Qualitätskontrolle, mit der sich auch die Gutachter absichern könnten. Wobei der umstrittene Gesetzesartikel auch vorsieht, dass auf Wunsch des Versicherten das Tonband während des Gesprächs auch ausgeschaltet werden kann.