118 Jahre nach Entzweiung: Chrischona und Landeskirche treffen sich zur Versöhnung

Hinweis

Waldgottesdienst am Sonntag, 6. Juni, 10 Uhr, beim Waldhaus Schweini Kirchleerau.

Das war dem Dorfpfarrer nicht geheuer. Da kamen die Leute in Scharen zusammen, da bei den Predigern der Chrischona, aus der ganzen Region kamen sie und weinten und jammerten über ihre Sünden. So eine wunderbare Macht ging von Bruder Vetter aus, der aus der Pilgermission St. Chrischona in Bettingen BS gekommen war, eine erweckende Macht. Solche Massen; das konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen, fand Pfarrer Lüscher. Und so stieg er sonntags auf die Kanzel und wetterte: Sektiererei sei das, grösste Sektiererei.

Im Januar 1903 war das. So steht es im Protokoll des damaligen Kirchleerber Predigers Michael Moschberger, so steht es in der Dorfchronik. Es war das Ende der Freundschaft zwischen Landeskirche und der Chrischona-Gemeinschaft. Letztere, seit 1875 an der Dorfstrasse 73 daheim, wandelte sich von einer evangelischen Gemeinschaft innerhalb der Landeskirche zur Freikirche. Seither gab es wohl ein Nebeneinander; ein Miteinander aber nicht. 118 Jahre lang.

Eine alte Geschichte, die nie bereinigt wurde

Am Sonntag feiern die reformierte Kirche Leerau (760 Mitglieder) und die Chrischona-Gemeinde Kirchleerau-Reitnau (70 Mitglieder) beim Waldhaus Schweini Versöhnung. Ein denkwürdiger Tag, ja gar historischer Moment. Treibende Kräfte: Chrischona-Pfarrer Jim Bühler und Christine Bürk, reformierte Pfarrerin. «Es ist eine alte Geschichte, aber eine, die nie offiziell bereinigt wurde. Wir wollen das jetzt aufarbeiten und ein für alle Mal einen Schlussstrich ziehen», sagt Jim Bühler. «Es ist Zeit für einen Neustart.»

Die reformierte Kirche Kirchleerau.

Die reformierte Kirche Kirchleerau.

Britta Gut

Bühler und Bürk kommen beide von ausserhalb, beide haben die alte Geschichte nicht gekannt. Und beide haben sich erschrocken, als sie in der Dorfchronik davon lasen. Ein Ereignis, das noch immer nachhallt. Nicht laut, aber halt immer noch, nach all den Jahren. «Wir haben wohl pro Jahr ein, zwei Gottesdienste gemeinsam gefeiert, aber ansonsten keine Berührungspunkte gehabt», sagt Jim Bühler, seit sieben Jahren in Kirchleerau. Und das, obwohl die beiden Gotteshäuser nur einen Steinwurf voneinander entfernt liegen.

Vergebung für Entzweiung, aber auch für Vorgänger

Dieser Schritt hat viel mit den Pfarrpersonen zu tun: Die beiden kennen sich erst seit November 2020, als Christine Bürk ihre Stelle im 900-Seelen-Dorf antrat. Aber sie haben sich auf Anhieb bestens verstanden. Den Schlüsselmoment schliesslich brachte Corona: Weil Jim Bühler ausgerechnet an Ostern wegen Quarantäne keinen Ostergottesdienst feiern konnte, sprang Christine Bürk ein. Ohne Vorbehalte, ganz selbstverständlich. «Wir Christen können uns keine Grabenkämpfe leisten, wir sollten versöhnt zusammen leben und arbeiten», sagt sie.

Die Kapelle der Chrischona-Gemeinde Kirchleerau-Reitnau.

Die Kapelle der Chrischona-Gemeinde Kirchleerau-Reitnau.

Britta Gut

Den Vorwurf der Sektiererei, der tut Jim Bühler noch heute weh. «Wir haben Überzeugungen, aber wir vereinnahmen, wir binden niemanden. Freikirche bedeutet freiwillig.» Trotzdem spart er nicht mit Selbstkritik, was die Entzweiung der Kirchleerber anbelangt:

«Wir Freikirchler haben oft die Eigenheit, andern zu verstehen zu geben, richtiger zu glauben, und andern stolz und arrogant entgegenzutreten.»

Das habe er auch schon von einem alten Mann im Dorf gehört; die von der Chrischona seien die, die immer alles besser gewusst hätten. «Genau mit solchen Vorurteilen wollen wir nun aufräumen.» Deshalb werde das am Sonntag auch Thema sein.

«Ein Neustart auf allen Ebenen»

Christine Bürk ihrerseits geht am Sonntag sogar noch weiter. Sie will ihre Kirchgemeinde auch um Vergebung bitten rund um die Geschehnisse in jüngster Vergangenheit, rund um die Abwahl ihres Vorgängers David Mägli. Auch das habe tiefe Spuren in der Gemeinde hinterlassen, sagt Christine Bürk. «Es soll ein Neustart auf allen Ebenen geben.»

Die Reaktionen auf die Versöhnung seien grossmehrheitlich gut, sagen beide. «Einige haben die Befürchtung geäussert, wir würden fusionieren», sagt Bühler. «Aber dem ist natürlich nicht so; wir leben unsere Traditionen und Geschichten weiter und freuen uns ob unserer Gemeinsamkeiten.» So, wie es die Kirchleerber beider Glaubensgemeinschaften schon vor 1903 getan haben. Es wird wohl Zeit, der Dorfchronik ein neues Kapitel hinzuzufügen.