«95 Prozent der Schweizer Bevölkerung kann sich ein Auto leisten» – Kann man hier überhaupt von Ungleichheit sprechen?

Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 43 Prozent der versteuerten Vermögen. Hat die Schweiz ein Problem?

Marius Brülhart: Auf diese Frage gibt es keine objektive Antwort, die auf einer wissenschaftlichen Beurteilung beruht. Aber es ist so: Bei den steuerbaren Vermögen ist die Ungleichheit im weltweiten Vergleich sehr stark. Wir haben eine kleine Schicht von Extremvermögenden. Ist das nun schädlich für die restlichen 99 Prozent der Bevölkerung oder hilft es ihnen sogar? Hier gehen die Meinungen auseinander.

Wie hat sich die Vermögenskonzentration entwickelt?

Die 99-Prozent-Initiative zielt auf das reichste Prozent der Bevölkerung. Hier ist der Befund klar: Ihr Anteil an den Vermögen ist in den letzten 15 Jahren deutlich gestiegen.

Weshalb?

Das ist die grosse Frage. Eine Hypothese ist die Zuwanderung von Vermögenden aus dem Ausland. Aus Schweizer Sicht wäre es unproblematisch, ja sogar positiv, wenn lukrative Steuerzahler hierherkommen. Die verfügbaren Daten weisen aber darauf hin, dass die Zuwanderung nur einen Teil des Anstiegs erklärt.

Welche Faktoren spielen sonst noch eine Rolle?

Wir stellen fest, dass vermögende Leute in der Regel höhere Erträge erzielen. Nicht nur absolut, sondern auch relativ zum eingesetzten Kapital. Das heisst, mit einer Milliarde Franken erzielt man eine höhere Rendite als mit einer Million oder 10000 Franken.

Weshalb?

Das kann man nicht genau sagen. Auf der Hand liegt die Vermutung, dass Fixkosten bei der Vermögensverwaltung eine Rolle spielen. So kann man sich mit grossem Vermögen Anlagespezialisten leisten, die exklusiv für einen arbeiten.

Die Juso stellen mit der 99-Prozent-Initiative eine grosse Frage: Wie gerecht ist das Steuersystem?

Die Juso stellen mit der 99-Prozent-Initiative eine grosse Frage: Wie gerecht ist das Steuersystem?

Peter Klaunzer

Das ist Wasser auf die Mühlen der Juso: Vermögende können ihr Kapital einfacher vermehren. Ein Grund, Kapital höher zu besteuern.

Dieser Schluss wäre stark vereinfacht. Hohe Renditen sind in einem funktionierenden Markt eine Erfolgsbestätigung: Das Kapital wurde fruchtbar eingesetzt. Hohe Renditen sind wünschbar, solange es sich nicht um Monopolrenten handelt.

Wie problematisch ist der Anstieg in der Vermögenskonzentration?

Man muss den erwähnten Anstieg zuerst einmal relativieren. Denn es geht dabei nur um die steuerbaren Vermögen. Ein grosser Teil der Vermögen ist aber nicht steuerbar, etwa die Gelder in der Pensionskasse oder der dritten Säule. Rechnet man diese Rentengelder ein, ist die Konzentration in der Schweiz nicht mehr so frappant. Sie ist dann beispielsweise tiefer als in den USA.

Die USA sind nicht gerade Vorbild in Sachen Gleichheit.

Ja, aber ohne die Rentengelder ist die Vermögenskonzentration in der Schweiz grösser als in den USA. Mit den Vorsorgegeldern ist die Konzentration zwar tiefer, aber immer noch höher als in unseren Nachbarländern.

Welche Zahl ist relevanter? Meine Vorsorgegelder kann ich nicht verprassen und ausgeben wie ich will.

Das stimmt. Mit dem Vermögen aus der zweiten Säule hat man weniger Möglichkeiten, man kann es auch nicht vererben. Grundsätzlich gilt: Betrachtet man nur die steuerbaren Vermögen, überschätzt man die Ungleichheit. Bezieht man die Rentengelder mit ein, unterschätzt man sie.

Profitiert Otto Normalverbraucher von der kleinen Schicht der Superreichen?

Die hohen Vermögen entstehen nicht zwangsläufig auf Kosten der Menschen mit mittleren oder tiefen Einkommen. Und Reiche zahlen ja auch bereits jetzt überproportional Steuern. Ob sich die Reichen ein zu grosses Stück vom Kuchen abschneiden, ist nicht so sehr eine ökonomische, sondern in erster Linie eine politische Frage. Es geht darum, ob sich eine schmale Schicht überproportional viel Einfluss erkaufen kann. In den USA und Grossbritannien gibt es da meines Erachtens problematische Entwicklungen. Bei uns ist aufgrund der direkten Demokratie Einflussnahme auch ohne Geld besser möglich.

In der Schweiz wurde das Kapital in den letzten Jahren stark entlastet. Zu stark?

Das ist ebenfalls eine politische Verteilungsfrage. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass im aktuellen Jahrhundert der Faktor Kapital gut weggekommen ist. Viele Kantone haben etwa die Erbschaftssteuern markant gesenkt und auch die Unternehmensgewinne wurden entlastet.

Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da?

Vergleiche sind schwierig, weil verschiedene Steuern das Kapital betreffen. Wir haben eine Vermögenssteuer, die in ihrem Ausmass einmalig ist auf der Welt. Aber wir besteuern dafür Kapitalgewinne nicht. Das Gesamtpaket für die Kapitalbesteuerung ist im internationalen Vergleich sicher attraktiv dank einer Kombination aus hoher Vermögenssteuer, keiner Kapitalgewinnsteuer, tiefer Gewinnsteuern, aber auch moderaten Einkommenssteuern. Auch beim Faktor Arbeit ist die Schweiz steuerlich attraktiv, wenn auch nicht so ausgeprägt wie beim Kapital.

Die Juso wollen Arbeit entlasten und Kapital belasten. Dann hat sie im Grundsatz also recht.

Diese Logik kann man vertreten, es ist aber eine Verteilungslogik. Als Ökonom argumentiere ich wenn möglich mit der Effizienz: Welche Steuern sind eher wachstumsfördernd? Die Unternehmensgewinnsteuer etwa betrifft zum Teil hochmobiles Kapital. Hier passt man als kleiner Staat besser auf. Die Hälfte der Unternehmensgewinne, die in der Schweiz besteuert werden, kommen von multinationalen Konzernen. Werden die Gewinne zu hoch besteuert, können sie sich rasch verflüchtigen.

Was sind aus ökonomischer Sicht effiziente Steuern?

Effizient sind Steuern, die den Staat finanzieren, ohne die wirtschaftliche Leistungsbereitschaft zu schmälern. Aus dieser Warte wäre eine Senkung der Vermögenssteuern zu Gunsten einer etwas höheren Erbschaftssteuer denkbar. Noch effizienter sind natürlich Steuern, die gar gesellschaftlich gewünschte Verhaltensanpassungen fördern, wie zum Beispiel ökologische Lenkungssteuern.

Was ist besser an der Erbschaftssteuer?

Die Vermögenssteuer bestraft die Person, die das Vermögen selber durch Arbeit und Sparsamkeit äufnet. Die Erbschaft bekommt man hingegen in den Schoss gelegt. Sie gibt den Erben keinen Anreiz, um mehr zu arbeiten oder zu sparen. Im Gegenteil. Studien zeigen, dass Leute eher mehr arbeiten, wenn das Erbe besteuert wird.

Die Juso wollen mit der Initiative mehr Steuereinnahmen generieren. Der Bundesrat stellt sich auf den Standpunkt, es gäbe genug Umverteilung.

Die Juso-Initiative hat das gleiche Problem wie die abgelehnte Erbschaftssteuer-Initiative: Sie will mehr Steuern eintreiben, ohne klaren Bedarfsnachweis. Es fehlen die Argumente für eine Ausweitung der Staatsquote.

Die Pandemie hat die Ungleichheiten vergrössert. In Genf gab es lange Schlangen vor Essensausgaben.

Man muss hier aufpassen. Es waren oft Sans-Papiers, die für das Essen angestanden sind. Das war eine spezielle Situation, und natürlich müssen wir zu den bedürftigen Menschen im Land schauen. Grundsätzlich gilt aber: Die materielle Lage auch der weniger begüterten Bevölkerungsschichten in der Schweiz ist im internationalen Vergleich gut. Wenn man über Ungleichheiten spricht, sollte man die absoluten Lebensumstände nicht aus den Augen verlieren. 95 Prozent der hiesigen Bevölkerung können sich ein Auto leisten, über 90 Prozent Ferien ausserhalb des Hauses.

Sie beschreiben das Paradies, der Mittelstand ächzt aber etwa unter höheren Krankenkassenprämien.

Wir leben nicht im Schlaraffenland. Aber wirtschaftlich gesehen wohnen wir wohl in dem Land, das dem Paradies am nächsten steht. Den Leuten hier geht es materiell extrem gut, sowohl im internationalen wie auch im Zeitvergleich. Wichtiger als die Vermögen sind für die meisten Leute ohnehin die verfügbaren Einkommen nach Steuern und Abgaben. Bei den Median-Haushaltseinkommen halten wir den Weltrekord, und bezüglich Einkommensungleichheit liegen wir im europäischen Mittelfeld. Aber die Verteilungsfrage bildet nun mal den immerwährenden Kern der politischen Auseinandersetzung in einer Demokratie. Als Ökonom sehe ich vor allem zwei Probleme im globalen Steuersystem.

Bitte?

Die wichtigste Baustelle ist die Rettung des Planeten: Wir brauchen ökologische Steueranreize, möglichst international koordiniert. Treibhausgase brauchen einen Preis, um Kostenwahrheit herzustellen. Etwas abstrakter ist die Frage der Monopolisierung der Wirtschaft im digitalen Raum. Da sprechen wir von Apple, Google, Facebook oder Amazon, die gewaltige Marktmacht auf sich vereinen. Ihre Gewinne bleiben durch Verbuchen in Steueroasen aber weitgehend steuerfrei. So funktioniert der Wettbewerb nicht mehr, und daher sind die internationalen Bemühungen um eine steuerliche Koordination absolut gerechtfertigt.

 

Eine ökologische Steuerreform ist schwierig, wie das abgelehnte C02-Gesetz gezeigt hat, das auch am höheren Benzinpreis und der Flugticketabgabe gescheitert ist. Auch hier ging es um Verteilungsfragen.

Wir haben eine Studie zur Flugticketabgabe gemacht. Im Gesetz war eine Spannbreite von 30 bis 120 Franken vorgesehen. Diese Preisspanne war wohl zu eng gewählt. Man hätte besser für den Easyjet-Flug nach Barcelona eine Abgabe von 10 oder 20 Franken vorgesehen und für den First-Class-Flug nach Hongkong 400 oder 600 Franken. Das hätte gemäss unseren Modellrechnungen etwas weniger Flugreisen verhindert, aber dennoch mehr Emissionen eingespart. Vielleicht haben die 30 Franken für den Kurzstreckenflug die paar fehlenden Stimmen gekostet.

Zur 99-Prozent-Initiative. Die Initianten rechnen mit Mehreinnahmen von 10 Milliarden Franken. Ist die Rechnung so einfach?

Nein, so viel würde es kaum geben. Ich kenne zwar die detaillierte Berechnung der Initianten nicht, doch es muss sich um eine statische Betrachtung handeln. Also wie hoch sind die ausgewiesenen Vermögen und Kapitalgewinne heute, und welche Einnahmen würden sich aus einer Höherbesteuerung dieser Beträge ergeben? Das ist keine valide Prognose. Denn bei jeder Steuererhöhung sucht der Steuerzahler nach Möglichkeiten, um Steuern zu vermeiden – legal oder illegal. In einer Studie zur Vermögenssteuer zeigen wir: Sinkt die Steuerbelastung, dann steigen die versteuerten Vermögen – und umgekehrt.

Die Studie zeigt auch, dass mehr Vermögen versteuert werden, weil Leute ihren Steuersitz in Kantone verlegten, wo die Steuern sanken.

Je kleiner die Einheiten sind, die ihre Steuern selber festlegen, desto grösser sind die Fluchtmöglichkeiten des Kapitals. Es ist relativ einfach, in eine Nachbargemeinde zu zügeln oder zwischen den Kantonen zu wechseln. Allerdings geht es nicht nur um die Mobilität, diese macht weniger als die Hälfte der Reaktionen aus. Die gestalterische Freiheit bei den steuerlich ausgewiesenen Vermögen ist zu einem beträchtlichen Teil auch auf buchhalterische Optimierungen zurückzuführen.

Sprich Steuerhinterziehung?

Das ist ein Element. Wenn die Steuern sinken, wird mehr Vermögen offengelegt. Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Wenn man die Steuern anhebt, dann sinkt die Steuerehrlichkeit.

Die Initianten sagen, das bürgerliche Parlament würde die Initiative in einer abgeschwächten Form umsetzen. Ist eine Umsetzung ohne negative Folgen für die Schweiz möglich?

Die Schweiz würde nicht untergehen und in der Umsetzung könnte man einiges entschärfen. Für die Nachfolgeregelungen in KMU und die Start-ups müsste man sicher Lösungen suchen. Klar ist aber auch: Kapitalgewinne müssten neuerdings ab einer gewissen Schwelle besteuert werden. Das wäre eine administrativ aufwendige Änderung und würde wohl dazu führen, dass gewisses Kapital abfliesst und Kapitaleinkommen kleingeschrieben werden.

Könnten auch Mindereinnahmen die Folgen sein?

Man kann sich rein theoretisch vorstellen, dass die Ausweichreaktionen so stark sind, dass es unter dem Strich weniger Steuereinnahmen gibt. Ich halte das aber für unwahrscheinlich. So hochmobil sind die Vermögen dann doch nicht. Die Initiative wäre für die Staatskasse kein Negativgeschäft aber ziemlich sicher auch nicht so positiv, wie die Initianten vorrechnen.

Zum Schluss: Ist Ungleichheit gut oder schlecht aus ökonomischer Sicht?

Beides. Den Leistungsanreizen sind gewisse Ungleichheiten durchaus förderlich. In einem hyper-sozialistischen Land, wo alle den gleichen Lohn haben, egal wie fähig und fleissig sie sind, lohnt sich Anstrengung nicht mehr. Zudem haben auch nicht alle die gleichen materiellen Ansprüche – gewisse Leute wählen beispielsweise bewusst Teilzeitpensen, um dafür mehr Zeit zu haben für anderes.

Wann wird die Ungleichheit zum Problem?

Plakativ gesagt: Wenn die Armen hungern und die Reichen sich hinter Stacheldraht verbarrikadieren müssen, hat eine Gesellschaft klar ein Problem. Aber, wo genau liegt die optimale Ungleichheit? Einen absoluten Konsens wird es in dieser Frage nie geben, in der Demokratie wird die Antwort stets aufs Neue verhandelt. Mir gefällt die Theorie des politischen Philosophen John Rawls: Wie wünscht man sich eine Gesellschaft, in die man dereinst geboren wird, ohne zu wissen, zu welcher Bevölkerungsschicht man dann gehören wird? Aus dieser Warte wünschen wir uns wohl alle einen Ausgleich, aber keine absolute Gleichheit.

Die Initiative und der Ökonom

99-Prozent

Am 26. September kommt die 99-Prozent-Initiative der Juso an die Urne. Sie verlangt, dass Kapitaleinkommen (etwa Dividenden, Mieterträge, Zinsen, Gewinne aus dem Verkauf von Wertpapieren oder Grundstücken) ab einem bestimmten Schwellenwert 1,5-fach besteuert werden. Die Mehreinnahmen sollen zur Entlastung der Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen verwendet werden.  

Marius Brülhart (53) ist Ökonomieprofessor an der Universität Lausanne. Er leitet unter anderem das Projekt «Steuerwettbewerb und Steuerausgleich» beim Schweizerischer Nationalfonds und ist Co-Direktor des Zentrums für Steuerpolitik der Uni Lausanne. Er ist auch Mitglied Expertengruppe Ökonomie in der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes. (dk)