
30 tödliche Messerstiche – Aargauer Staranwalt Urs Oswald erklärt, wieso das kein Mord ist
Es war ein grausames Bild, das sich den Nachbarn von Hildegard Enz Rivola am Abend des 17. Januar bot: Die 66-Jährige lag blutüberströmt und mit zahlreichen Stichverletzungen vor ihrer Wohnung an der Erlinsbacherstrasse in Aarau. Die Seniorin wurde noch per Ambulanz ins Spital gebracht, doch sie erlag dort am selben Abend ihren schweren Verletzungen.
Rund einen Monat später nahm die Polizei einen 28-jährigen Kroaten fest, der verdächtigt wurde, die Frau erstochen zu haben. Dieser gestand gemäss Mitteilung der Staatsanwaltschaft vom Mittwoch, die Seniorin umgebracht zu haben. Er hatte laut einem rechtsmedizinischen Gutachten mindestens 30 Mal auf ihren Oberkörper und zahlreiche weitere Male auf Beine und Arme des Opfers eingestochen.
Der Kroate hätte nur noch einen Monat in seinem Zimmer wohnen können. Er habe Hildegard Enz Rivola mit der Absicht getötet, nach ihrem Tod in ihre Wohnung einzuziehen, schreibt die Staatsanwaltschaft zu seinem Motiv. Zwischen dem Kroaten und der erstochenen Frau habe es keine persönliche Beziehung gegeben, heisst es in der Mitteilung. Warum wurde dann ausgerechnet die Rentnerin zum Opfer? Auf Nachfrage der AZ sagt Fiona Strebel, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, der Mann habe im Jahr 2015 als Sanitär in ihrer Wohnung gearbeitet und deshalb gewusst, dass die Frau dort alleine wohne.
Gutachten bezeichnet den Täter als schuldunfähig
Trotz des brutalen Vorgehens und den niedrigen Beweggründen klagt die Staatsanwaltschaft den Mann nicht wegen Mordes an. Sie beantragt beim Bezirksgericht Aarau die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme in einer geschlossenen Einrichtung.
Grund dafür ist, dass der Kroate laut einem psychiatrischen Gutachten schuldunfähig ist. Beim Täter wurden laut Staatsanwaltschaft «paranoide Schizophrenie und schädlicher Gebrauch von Alkohol und Kokain» festgestellt. Aus forensisch-psychiatrischer Sicht sei die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten zum Zeitpunkt seiner Tat aufgehoben gewesen, heisst es in der Mitteilung. Die Staatsanwaltschaft geht, gestützt auf das Gutachten, davon aus, dass ohne die stationäre psychiatrische Behandlung ein hohes Risiko besteht, dass der Kroate erneut Gewaltstraftaten begehen könnte. Bis der Antritt des stationären Massnahmevollzugs möglich ist, ist der Mann im vorzeitigen Strafvollzug.
Die stationäre Massnahme wird auch als «kleine Verwahrung» bezeichnet. Der Erfolg der Therapie wird nach fünf Jahren überprüft, «in den meisten Fällen wird die Massnahme um weitere fünf Jahre verlängert», sagt der erfahrene Strafverteidiger Urs Oswald. Für juristische Laien könne es schwer verständlich sein, dass bei dieser Tat keine Mordanklage erhoben werde. «Wenn der Psychiater zum Schluss kommt, dass der Täter nicht schuldfähig ist, und die Staatsanwaltschaft das Gutachten nicht in Zweifel zieht, ist dieses Vorgehen aber korrekt», sagt Oswald.
Bei einem Mordfall würde dem Täter möglicherweise eine lebenslängliche Haftstrafe drohen. «Mit der stationären Massnahme ist ebenfalls gewährleistet, dass der Mann keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstellt», sagt Oswald. Bei gravierenden Gewaltdelikten sei eine solche Massnahme zum Schutz der Bevölkerung angemessen, sagt der Anwalt. Es gebe aber Fälle, bei denen eine «kleine Verwahrung» aus seiner Sicht fragwürdig sei. Wenn einem Täter für weniger schwere Vergehen nur kürzere Haftstrafen drohen, könne eine stationäre Massnahme übertrieben sein. «Es gilt je nach Delikt abzuwägen, ob der Schutz der Öffentlichkeit dies rechtfertigt.»