Eltern wehren sich gegen Obdachlosen, der den Schulweg «blockiert»

Kinder sollen selbstständig ihren Schulweg gehen. Das wird Eltern immer wieder gesagt. Darum haben auch Natasa Filipovic und Efrain Aguirre Espinosa im August ihre Tochter, nennen wir sie Paula, alleine auf ihren Schulweg geschickt. Die Erstklässlerin aus Aarburg muss nur wenige hundert Meter zurücklegen, um ins Schulhaus Höhe zu gelangen. 

An sich ist das kein Problem, wäre da nicht ein Obdachloser, der die Höhe-Unterführung regelmässig in Beschlag nimmt. Er trinkt dort Alkohol, verrichtet sein Geschäft und versetzt die Schulkinder in Angst. Paula getraut sich seit der ersten Begegnung mit dem Mann nicht mehr alleine in die Schule. Ihre Mutter ist verzweifelt, ihr Vater wütend. 

Die Tochter leidet an Angstzuständen 

Natasa Filipovic und Efrain Aguirre Espinosa erzählen die Geschichte an einem kalt-nebligen Novemberabend bei sich zu Hause. Während Paula in ihrem Zimmer spielt, setzen sich ihre Eltern an den Stubentisch. Ihnen reicht es. Und sie wissen bald nicht mehr weiter. Gemeinsam mit einer anderen Familie haben sie darum Unterschriften gesammelt, um auf das Problem mit dem obdachlosen Mann aufmerksam zu machen. In einem Brief an die Gemeinde Aarburg, die Regionalpolizei Zofingen, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) sowie an die Schule Aarburg beschweren sie sich über die Zustände. 

Konkret geht es darum, dass sich der Mann schon vor Kindern entblösst hat und mitten auf die Treppe der Unterführung uriniert hat. Zudem ist er häufig alkoholisiert. «Man weiss nie, was er in diesem Zustand noch anrichtet», meint Natasa Filipovic. Sie stellte ihn dann einmal zur Rede. Mit dem Ergebnis, dass der Mann aggressiv wurde und ihr mit gehobener Faust nachging. «Das alles hat meine Tochter leider miterlebt», sagt Filipovic. Glücklicherweise seien ihr zwei Männer zu Hilfe gekommen, welche die Situation dann klären konnten. «Wir haben auch die Polizei gerufen, aber dann verschwindet er immer schnell», so Filipovic. 

Seit diesem Ereignis leide ihre Tochter unter Angstzuständen. Gespräche mit der Schulsozialarbeit haben stattgefunden. Das Problem der Familie ist auch, dass Paula keinen anderen Weg zur Schule nehmen kann. Die Unterführung ist die einzige Möglichkeit, um auf die andere Strassenseite zu gelangen. 

Paula sagt: «Ich will, dass der Mann weg geht» 

Inzwischen hat sich auch Paula an den Tisch gesetzt. Sie spricht freudig über den Schulunterricht, erzählt, wie sehr sie Mathematik mag. Sobald die Journalistin sie aber auf den obdachlosen Mann anspricht, wird Paula stumm. Sie verschränkt ihre Hände ineinander, presst sie fest zusammen. Auf die Frage, wie es ihr geht, wenn sie durch die Unterführung geht, sagt sie: «Ich fühle mich komisch.» Paulas einziger Wunsch: «Ich will, dass der Mann weg geht.» 

Die Schule kann in Paulas Fall nichts machen. Denn der Schulweg gehört in die Zuständigkeit der Eltern. «Als Mutter fühle ich mich hilflos», sagt Natasa Filipovic. «Das ist kein sicherer Schulweg für mein Kind.» Sie möchte, dass ihre Tochter nicht mehr Angst haben muss. Mit der ersten Klasse habe ein wichtiger Lebensabschnitt ihres Kindes begonnen. «Sie wird jetzt selbstständiger. Und da gehört der Schulweg auch dazu.» Im Moment aber müsse sie ihre Tochter immer zur Schule bringen und wieder abholen. Denn jeden Tag sei die Angst da. Paula klage immer wieder über Bauchweh und Durchfall. 

Eltern fordern professionelle Hilfe für den Obdachlosen 

Was Natasa Filipovic und ihren Mann besonders ärgert: «Es passiert einfach nichts.» Paulas Vater ergänzt: «Zudem ist der Mann immer dann vor Ort, wenn die Kinder zur Schule müssen. Vorher und nachher nicht.» Er frage sich zudem, wer wohl die Therapie seiner Tochter bezahlt, wenn diese weiterhin solche Angst hat und möglicherweise professionelle Hilfe in Anspruch nehmen muss. Natasa Filipovic geht es aber nicht nur um einen sicheren Schulweg für ihre Tochter und deren Klassengspänli. Ihr sei klar, dass der betroffene obdachlose Mann ein schwerwiegendes psychisches Problem haben muss. Im Brief der Eltern an die Behörden heisst es darum: «Wir möchten festhalten, dass auch zum Schutz der betroffenen Person endlich etwas unternommen werden muss. Es darf nicht sein, dass man ihn einfach so seinem Schicksal überlässt.» 

Zum Ende des Gesprächs sagt Natasa Filipovic nur noch: «Ich bitte drum, dass endlich etwas passiert.» Und ihr Mann ergänzt: «Wo bleibt die Freiheit der Kinder?» 

Lesen Sie ausserdem zum Thema: 

 

Paulas Eltern – die Mutter möchte unerkannt bleiben – haben Unterschriften gesammelt. Bild: jam
Paulas Eltern – die Mutter möchte unerkannt bleiben – haben Unterschriften gesammelt. Bild: jam

Das sagt das Familiengericht 

Zum konkreten Fall darf das Familiengericht keine Stellung nehmen, da es verpflichtet ist, das Amtsgeheimnis zu wahren. Josefina Grossenbacher, Medienbeauftragte des Familiengerichts Zofingen, nimmt im Allgemeinen Stellung zum Erwachsenenschutz. Grundsätzlich gilt, dass jede Person der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eine Meldung machen kann, wenn ihr jemand hilfsbedürftig erscheint. «Die KESB prüft dann, ob die Voraussetzungen einer Erwachsenenschutzmassnahme erfüllt sind», sagt Grossenbacher. Im Zentrum stehe in einem solchen Fall, ob eine geistige Behinderung, eine psychische Störung oder ein vergleichbarer Schwächezustand vorliegt. «Konkret klärt die KESB ab, ob und inwieweit eine Gefährdung und Schutzbedürftigkeit einer betroffenen Person vorliegt», so Grossenbacher. «Behördliche Massnahmen dürfen nur dann erfolgen, wenn die Person nicht selbst in der Lage ist, sich zu helfen oder zu schützen.» Dabei sei zentral, dass Massnahmen verhältnismässig sind, das heisst es sei die mildeste, im Einzelfall Erfolg versprechende Massnahme zu treffen. Sie müsse geeignet und erforderlich sein. Freiwillige Hilfsangebote (z.B. durch familiäre Unterstützung) hätten Vorrang. «Die Massnahmen reichen dabei von einer einfachen Begleitbeistandschaft bis hin zur weitreichendsten Massnahme, der Fürsorgerischen Unterbringung», führt Grossenbacher aus. Weil diese einen sehr starken Eingriff in die Rechte und die Freiheit der betroffenen Person darstellt, sind die Voraussetzungen für deren Anordnung besonders streng. «Eine Person darf gegen ihren Willen in einer geeigneten Einrichtung nur untergebracht werden, wenn sie an einer psychischen Störung erkrankt ist, an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist und die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann.» Wichtig: Die Fürsorgerische Unterbringung diene nicht dem Schutz der Allgemeinheit vor der betroffenen Person, sondern diese soll wieder selbständig und selbstverantwortlich leben können.