
Alt SVP-Präsident Hans Ulrich Mathys schlägt nach Wahlschlappe Alarm: «Glarner zerstört unsere Partei»
Montagmorgen. Während über Aarau noch der Nebel hängt, scheint in Holziken bereits die Sonne. Hans Ulrich Mathys sitzt in seiner Wohnung am Esstisch, blättert in der AZ und schüttelt den Kopf. Das Resultat sieht auch nach einmal Darüber-Schlafen nicht besser aus. Im Gegenteil: Nicht nur hier im Westen des Kantons, wo Mathys zu Hause ist, auch im Osten des Aargaus schneidet die SVP bedenklich schlecht ab.
Mathys war von 1995 bis 2003 selber Präsident der SVP Aargau, langjähriger Nationalrat (1999–2007) und Gemeindeschreiber in Holziken. Er steht dem Kurs von Andreas Glarner als aktueller Kantonalpräsident nicht erst seit heute kritisch gegenüber. Aber nach der jüngsten Wahlschlappe hat es ihm den Hut gelupft. Er will Klartext reden.
Wie werten Sie das Abschneiden der SVP bei den Kommunalwahlen?
Das war ein Desaster. Und grösstenteils selbstverursacht.
Was ist schiefgelaufen?
Es ist fast alles schiefgelaufen. Vor allem liegt es an der Führung, an der Teppichetage der SVP, die sich auf eine Art und Weise gebärdet, dass sich viele Wähler von uns abwenden. Sie gehen nicht mehr wählen oder wählen jemand anders. Der Ton passt ihnen nicht mehr und das dokumentieren sie an der Urne.
Mit dieser Kritik steuern Sie direkt Andreas Glarner an. Ist er wirklich der Hauptschuldige an der Wahlschlappe vom Sonntag? Immerhin konnte die SVP bei den Grossratswahlen letztes Jahr zur Überraschung vieler den Wähleranteil über 30 Prozent halten, da war Glarner auch schon Präsident.
Ich bin sicher, dass sich der Glarner-Kurs langfristig negativ auswirken wird. Das katastrophale Abschneiden bei den Kommunalwahlen am Sonntag war die erste, deutliche Quittung.
Glarner sagt, man muss als SVP klare Kante zeigen. Mit einem «Weichspülerkurs», wie er es nennt, komme man nicht weit.
Man muss inhaltlich nicht Weichspüler sein. Glarner hat nicht recht, dass viele Ortsparteien Weichspüler sind. Unsere Leute, die unten in den Ortsparteien für die Partei arbeiten, merken einfach den Druck der abgesprungenen Wähler, die sagen, ich kann mich nicht mehr mit euch identifizieren. Es gehe doch nicht, die eigenen Regierungsräte als «Höseler» zu bezeichnen, nur weil sie eine andere Meinung haben und Verantwortung übernehmen. Das kommt bei unserem Fussvolk schlecht an.
Glauben Sie das einfach oder hören Sie das konkret von Leuten?
Das ist nicht einfach ein Furz von mir, das höre ich direkt. Und immer öfter. Für bodenständige, anständige SVP-Wähler geht es einfach nicht, so mit Regierungsräten umzugehen. Ich frage mich, was sich Glarner dabei denkt, wenn er als Parteipräsident so mit Parteikollegen umgeht, die ja von den eigenen Leuten gewählt worden sind.
Sie sehen keine bewusste Strategie dahinter?
Bei Glarner bin ich mir nie sicher, ob es so gewollt ist oder er fahrlässig handelt. Aber wenn das eine Strategie ist, ist Glarner am falschen Platz. Ein Parteipräsident muss für alle in der Partei da sein, auch für die, die in der Sache eine andere Position vertreten.
Vielleicht kann man einfach nicht den Fünfer und das Weggli haben. Auf der einen Seite bringt der aggressive Kurs Wähleranteile von über 30 Prozent bei National- und Grossratswahlen, dafür zahlt die SVP den Preis bei Personenwahlen in den Städten und Gemeinden, wo dieser Stil offenbar wenig erfolgreich ist.
Wenn wir so weitermachen, brechen auch die Wähleranteile ein. Die SVP im Aargau hat jahrzehntelang gute Basisarbeit gemacht und ist entsprechend gewachsen. Wir profitieren immer noch davon, aber das wird jetzt langsam, aber sicher kaputtgemacht.
Die SVP-Delegierten haben Glarner gewählt. Man wusste, was man mit ihm bekommt.
Manchmal habe ich schon das Gefühl, es sind zwei Welten: hier Glarners Gefolgschaft, die am Parteitag eine Mehrheit zu Stande bringt, und da die Leute, welche in den Ortsparteien chrampfen und versuchen, gute Sachpolitik zu machen.
Warum wehren sich diese nicht mehr?
Es kann schon sein, dass es in der SVP eine Minderheit gibt und nun einen anderen, eigenen Weg sucht. Ich hoffe aber schon, dass andere Exponenten, die etwas zu sagen haben, jetzt aufstehen und sich der Parteiführung entgegenstellen.
Ich habe ein Zitat gefunden von Ihnen: «Haben wir in unserer Partei überhaupt noch besonnene Kräfte, die sich trauen, aufzustehen und dem unsäglichen Treiben ein Ende zu bereiten?» Das haben Sie 2011 gesagt. Es könnte geradeso gut von heute sein.
Ja, das können Sie 1:1 auf heute übertragen. Das gilt immer noch.
Nach 2011 ging es mit der SVP aber nochmals aufwärts. Vielleicht haben Sie ja doch nicht recht und der aggressivere Kurs ist erfolgreicher als Ihrer?
Klar, manchmal hinterfrage ich mich auch, ob die besonneren Kräfte wie ich und andere auf dem falschen Dampfer sind. Es wäre traurig, immerhin haben wir die SVP zu einer erfolgreichen Partei gemacht, die Rang und Namen hatte.
Sie waren schon immer ein Antipode von Glarner. Man könnte Ihre Kritik also relativieren und sagen: Jetzt will es der Mathys ihm einfach heimzahlen.
Das könnte ich. Aber ich sehe einfach, wie die Partei zerbröselt. Und da will ich nicht einfach nur zuschauen. Die Partei leistet keine Basisarbeit mehr. Stattdessen wird noch plakativ über Facebook medienwirksam gepoltert. Das bringt kurzfristig vielleicht ein paar Wähleranteile, aber zerstört das Fundament und die Struktur unserer Partei.
Das weist Glarner von sich und betont, er gehe zu den Ortsparteien, die ihn riefen, um über die richtige Strategie zu reden.
Das spüre ich nicht. Zu uns muss er jedenfalls nicht kommen. Die Ortsparteien warten nicht auf ihn und seine Ratschläge. Die Tonalität von ihm ist nicht gut, Glarner zerstört unsere Partei. Er muss nicht in die Ortsparteien kommen, er muss sein Amt als Parteipräsident wahrnehmen.
Was muss sich konkret ändern?
Wissen Sie, früher hätte man den Rücktritt fordern können. Aber Glarner ist gewählt und hat einen gewissen Rückhalt von Leuten, die ihm zujubeln – was eh gefährlich ist. Die Aufrechten müssen aufstehen und eine Kurskorrektur verlangen. Ob sie den Mut haben, weiss ich nicht. Das Wahlresultat am Sonntag war jedenfalls ein Fingerzeig.
Leute mit SVP-Gedankengut lassen sich zunehmend als «Parteilose» aufstellen, weil sie das Etikett «SVP» nicht wollen. Das könnte man jetzt auch Glarner in die Schuhe schieben. Aber Sie in Holziken haben das gleiche Problem. Nur der Gemeindammann-Posten ist offiziell mit der SVP besetzt. Alle anderen Gemeinderäte sind parteilos.
Es ist tatsächlich nicht so wichtig, wenn jemand als Parteiloser antritt. Hauptsache der Inhalt stimmt. Aber ja, es gibt zunehmend Leute, auch bei uns, die nur Gemeinderat werden wollen, wenn sie nicht in eine Partei müssen. Dieses Problem hat aber nicht nur die SVP.
In den Städten ist die SVP besonders abgeschifft. Man hat den Eindruck, dass es von Fall zu Fall auch daran liegt, dass sich die Kandidaten zu wenig engagieren im Wahlkampf oder zu wenig profiliert sind. Bei den Stadtratswahlen in Aarau hatte SVP-Kandidatin Nicole Burger nicht den Hauch einer Chance.
In Aarau wurde wahrscheinlich schlicht die falsche Kandidatin aufgestellt. Aber es wird generell schwieriger, gute Leute zu finden. Und das ist gefährlich. Ohne Basis in den Gemeinden können wir keine gute Politik mehr machen.
Hat möglicherweise auch die Coronapolitik einige Wähler abgeschreckt? Die SVP profiliert sich landesweit als Partei der Massnahmengegner.
Ja, das könnte ich mir schon vorstellen. Aber matchentscheidend war das nicht, das Problem geht tiefer.

Hart in der Sache, besonnen im Ton: So wünscht sich Mathys die SVP.
Welche SVP-Politik wünschen Sie sich?
Die SVP ist eine Volkspartei, die näher am Volk ist als andere bürgerliche Parteien. Was sich ändern muss, ist der Ton. Man muss Andersdenkende respektieren, statt sie zu beschimpfen.
Ich höre raus, dass Sie mit der Sachpolitik der SVP-Leitung durchaus einig sind.
Bei Corona hätte man es moderater machen müssen und hinter dem Regierungsrat stehen. Aber sonst bin ich mit der inhaltlichen Politik auf Stufe Bund und Kanton durchaus einverstanden.
Sie sagten vorher, früher hätte man den Rücktritt gefordert. Heisst das durch die Blume: Glarner soll selber darauf kommen?
Die Partei würde keinen grossen Schaden nehmen, wenn Glarner sagen würde: Ich gehe jetzt, ich habe nichts mehr verloren als Parteipräsident.
Ziehen Sie sich nach diesem Interview wieder zurück oder werden Sie sich nochmals engagieren in der Partei, damit sie sich in Ihrem Sinn verändert?
(überlegt) Ein treuer SVPler hat mir kürzlich gesagt, er könne sich nicht mehr identifizieren mit der Parteileitung, ehemalige Parteipräsidenten sollten jetzt zusammenstehen und ein Sammelbecken bilden als Gegengewicht. Ich bin jetzt 75. Ob ich in diesem Alter noch mitmachen muss? Aber ich überlege mir schon ernsthaft, ob ich da selber noch etwas unternehmen kann. Es muss etwas passieren.
Abgewählt und aufgelaufen
Die SVP-Wahlschlappe
Die Kommunalwahlen vom Sonntag gehen als schwarzes Kapitel in die Geschichte der SVP Aargau ein. Allen voran in den Stadtregierungen scheiterte die wählerstärkste Partei mit ihren Vorhaben fast durchs Band: In Aarau hatte SVP-Kandidatin Nicole Burger keine Chance gegen die SP-Kandidatin im Kampf um den letzten Stadtratssitz. In Lenzburg fliegt die SVP gar aus der Exekutive, in Baden trat sie nicht mal an. Und auch in Wettingen, Oftringen und Zofingen regiert die Volkspartei in Zukunft nicht mit.
Auch in Agglomerationsgemeinden tut sich die SVP schwer: In Suhr schaffte sie das Comeback nicht. Ihr Kandidat wurde ebenso letzter wie der SVP-Kandidat in Buchs, wo die Partei ebenfalls nicht mehr in der Exekutive vertreten ist. Auch in kleineren Gemeinden muss sie teils empfindliche Niederlagen einstecken. In Freienwil etwa wurde der SVP-Gemeindeammann abgewählt, in Gebenstorf gleich beide Gemeinderäte, in Laufenburg der bisherige Vizeammann, obwohl dieser sogar Stadtammann werden wollte. Auch in Oberwil-Lieli, wo einst Andreas Glarner als Ammann amtete, sucht man im Gemeinderat vergebens nach dem SVP-Parteibüchlein. (roc)