Epidemiologe: «Wie kann man sich so kurz vor dem Ziel noch ins eigene Knie schiessen?»

Der Entscheid des Bundesrates zu weiteren Lockerungen der Coronamassnahmen führte bei den Epidemiologen zu vielen Reaktionen – nur keinen positiven.

«Schwer nachzuvollziehen, wie man sich so kurz vor dem Ziel noch ins eigene Knie schiessen kann», schrieb Christian Althaus via Twitter.

Und Kollegin Isabelle Eckerle twitterte, die Lockerungen bei steigenden Fallzahlen hätten unnötig Kranke und Tote zur Folge.

Es sei, wie zum Löschtrupp der Feuerwehr (sprich Impfungen) einen zweiten zu schicken, der Kerosin sprühe.

Taskforce-Präsident Martin Ackermann weist darauf hin, dass die Fallzahlen nur noch zwei Verdopplungen unter dem Höchststand vom November lägen. «Bei einer solch grossen Zirkulation des Virus ist jede Zunahme von Kontakt und Mobilität heikel. Die jetzige Situation ist ein Wettlauf zwischen dem Anstieg von Neuinfektionen und der Durchimpfungsrate.»

Es sei wichtig, dass die Leute die Risiken für sich selber einschätzen würden: In Innenräumen ist das Risiko, sich anzustecken, viel höher als draussen, ebenso wenn keine Maske getragen wird, Leute laut sprechen oder sich körperlich anstrengen und deshalb intensiver atmen.

Intensivmediziner Peter Steiger, Universitätsspital Zürich.

Intensivmediziner Peter Steiger, Universitätsspital Zürich.

Bild: Keystone

Gerade dies wird speziell in den Fitnesscentern der Fall sein. Peter Steiger, stellvertretender Direktor der Intensivmedizin am Universitätsspital Zürich, warnt, dass die Maske beim Sport schnell störe. «Deshalb ist die Versuchung gross, sie entweder nicht korrekt zu tragen oder auf ein sehr gut durchlässiges Modell zu wechseln. Beides erhöht die Gefahr einer Übertragung», so Steiger.

Fallzahlen werden trotz Schutzkonzepte steigen

Steiger musste am Sonntag wieder eine reine Corona-Intensivstation eröffnen. Er sagt: «Mein Team hat mit Unverständnis auf die Lockerungen reagiert.» Er gibt das sinkende Alter der Hospitalisierten zu bedenken: «Ein Viertel unserer Patienten sind unter 50 Jahre alt.»

Epidemiologin und Taskforcemitglied Nicola Low.

Epidemiologin und Taskforcemitglied Nicola Low.

Bild; zvg

Auch Epidemiologin Nicola Low macht sich Sorgen. Sie sagt: «Selbst wenn sich die Menschen an den einzelnen Orten an Schutzkonzepte halten, wird es durch die Zunahme der Mobilität und die insgesamt grössere Anzahl von Menschen, die sich draussen aufhalten, mehr Möglichkeiten für eine Virusübertragung geben.»

Sie warnt: Die Übertragung des Coronavirus nehme exponentiell zu, auch wenn die Menschen es persönlich nicht bemerkten.

«Die Verdopplungszeit der Fallzahlen liegt jetzt bei etwa vier Wochen – und die wird mit zunehmenden Übertragungen kürzer.»

Der Anstieg geschehe jetzt wahrscheinlich in der mobilen erwachsenen Bevölkerung, die jetzt mehr Möglichkeiten hat, sich zu treffen. Low hätte es besser gefunden zu warten, bis viel mehr Menschen dieser Gruppe geimpft sind.

Ein weiteres Problem sei, dass die Zahl der getesteten Personen sinke. «Die Empfehlungen für verstärktes Testen bei asymptomatischen Personen wurden noch nicht umgesetzt.» So könnten Übertragungsketten nicht durchbrochen werden.