
Der Bundesrat erlaubt Schmalspurkultur und überrumpelt die Branche
Alles auf Anfang, alles auf Herbst. An spätabendlichen Krisensitzungen werden sie wieder ihre Köpfe zusammengesteckt haben: die Kinobetreiber, Theatermacherinnen und Konzertveranstalter. Viele hatten die laufende Saison längst abgeschrieben. Haben ihre Sommerfestivals, wenn nicht schon vor Wochen abgesagt, wenigstens vorsorglich in den digitalen Raum verschoben.
Nun hat der Bundesrat gestern überraschend angekündigt, Kulturveranstaltungen mit maximal 50 Zuschauerinnen und Zuschauern ab dem 19. April wieder zuzulassen, sofern die Häuser damit keine Auslastung von mehr als einem Drittel ihrer Kapazität erreichen. Die Institutionen können ihre Schutzkonzepte aus dem Herbst, als die 50er-Regel bereits in Kraft war, wieder aus den Schubladen holen. Und sie dürfen sich darüber freuen, dass im Freien durchgeführte Openair-Veranstaltungen mit 100 Gästen möglich sind.
Die Veranstaltungsbranche ist überrumpelt
Kulturfans, die ihren Kulturhunger bislang nur in Museen stillten, werden sich bei dieser Perspektive in die Arme fallen. Doch perspektivlos bleibt die Situation für Openair- und Festivalveranstalter, also für all jene, die mehr Planungssicherheit bräuchten. Auch nach diesen kleinen Lockerungsschritten wissen sie nicht, wie es weitergeht. Denn der Bundesrat hat es verpasst, Eckwerte, Rahmenbedingungen und Bewilligungskriterien zu definieren. Die zentrale Antwort auf die Frage «Was könnte unter welchen Umständen wie möglich sein?», blieb er schuldig. Die grossen Konzertveranstalter bewegen sich im luftleeren Raum, die Zeit läuft ihnen davon. Weitere Absagen sind zu erwarten.
Auch die Kinobranche fühlt sich überrumpelt. Von der landesweit präsenten Kette Pathé gab es bis Redaktionsschluss keine Reaktion. Die Blue Cinemas hingegen haben bereits eine Öffnung in Aussicht gestellt. Da diese Ketten mit ihren grossen Multiplex-Kinos von internationalen «grossen Kisten» leben, müssen sie sich eine Wiedereröffnung gut überlegen. Der Oscar-Anwärter «Minari» , der ursprünglich schon nächste Woche starten sollte, könne mit Sicherheit nicht gezeigt werden, schreibt etwa der Filmverleih Pathé auf Anfrage.
Bei Theater- und Opernhäusern hingegen ist zu erwarten, dass die seit Wochen hinter den Kulissen am Laufband produzierten Inszenierungen wie im Herbst schnell wieder ihr Premierenpublikum finden werden. Fast alle grossen Häuser haben nach dem Bundesratsbeschluss Premieren im April angekündigt. Für die am letzten Sonntag gestreamte Zürcher Opernhauspremiere von «Les contes d’Hoffmann» hatte man in der Hoffnung, im Mai wieder Publikum zu haben, Orchester und Chor einmal mehr in den Probesaal verschoben statt wie anderswo, im Parkett zu spielen. Schon im letzten Herbst bedeuteten Zuschauerbeschränkungen von bis zu 15 Personen für Häuser wie das Theater Basel kein Hindernis.
Möglich, dass dank dem hinzugewonnen technischen Know-how der letzten Wochen hybride Formen, bei denen analoge und digital zugeschaltete Besucherinnen und Besucher gemeinsam Kultur erleben, boomen werden. Und dass wir einen mit Musik und Darbietungen gefüllten Openair-Sommer erleben, der das Versprechen, Kultur aus den ehernen Mauern von Kulturinstitutionen zu tragen, endlich einlöst.