
ABB trennt sich von 100-jährigem Geschäft in Baden – Präsident Peter Voser: «So hat es die bessere Zukunft»
Die Wurzeln von ABB liegen in der Schweiz und in Schweden. Beide Länder gelten wegen ihrer Coronapolitik als Sonderfälle. Wie beurteilen Sie diese?
Peter Voser: Jedes Land hat das Recht, diejenigen Massnahmen zu treffen, die am besten zu seiner Kultur und zu seinem Verständnis von Gemeinschaft und Eigenverantwortung passen. Das tut die Schweiz, und das tut auch Schweden.
Die Fallzahlen waren zwischenzeitlich beunruhigend, aber dank unseres funktionierenden Föderalismus und hoher Eigenverantwortung sind sie wieder heruntergekommen. Ich finde es richtig, dass es keinen zweiten landesweiten Lockdown gab.
Und wenn die nächste Welle kommt?
Ich rechne mit einer dritten und vielleicht mit einer vierten Welle, aber ich würde auch dann auf den Schweizer Weg vertrauen. Die Schweiz darf ihre eigene Strategie verfolgen. Schweden wiederum hat es meines Erachtens zumindest in der ersten Phase ebenfalls gut gemacht. Diszipliniertes Verhalten ist in der dortigen Bevölkerung stark verankert. Die Länder können gegenseitig von ihren Erfahrungen lernen, ABB tat dies als Unternehmen auch.
Wir haben Fabriken in China. Dieses zuerst betroffene Land hat sehr schnell auf die Ausbreitung des Virus reagiert, und die dort ansässigen Unternehmen ebenso. Diese Erkenntnisse haben wir auf andere Standorte übertragen. Fast alle unsere Produktionsstätten, selbst in Bergamo, blieben immer offen. Dies auch darum, weil wir Produkte herstellen, die für das alltägliche Leben fast schon systemrelevant sind. Wir stellen beispielsweise das Elektrosystem in Spitälern und anderen Gebäuden sicher. Ohne Strom geht nichts.
ABB ist rund um die Welt tätig. Während einige Ökonomen von der schlimmsten Rezession seit einem Jahrhundert sprechen, sagen andere – auch mit Blick auf die boomenden Börsen – es gehe rasch wieder aufwärts. Ihre Beurteilung?
Die globalen Konzerne, so scheint es, bewältigen die Pandemie ganz gut, während viele Kleinfirmen und Selbstständige leiden. Das verstärkt das Misstrauen gegenüber den Konzernen noch, wie auch die Abstimmung vom vorletzten Sonntag gezeigt hat.
Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 stimmt das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nicht mehr. Das gegenseitige Vertrauen ist verlorengegangen. Ich bin froh, dass die Konzernverantwortungsinitiative letztlich gescheitert ist, dies auch dank des Engagements von Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die auf sehr populistische und aus meiner Sicht undemokratische Weise persönlich angegriffen wurde. Aber ich sehe ein Grundsatzproblem.
Inwiefern?
Die Bevölkerung wirft alle Unternehmen oft in einen Topf. Es gibt schwarze Schafe, aber mindestens 99 Prozent der Firmen in der Schweiz verhalten sich seit Jahren sehr sensibel, was Nachhaltigkeit und Menschenrechte betrifft. ABB kennt einen entsprechenden Kodex seit zwei Jahrzehnten. Wenn die Konzerninitiative und jetzt der Gegenvorschlag helfen, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dann umso besser. Das Vertrauen muss gegenseitig wieder wachsen, es war immer eine Stärke des Standorts Schweiz.
Als Shell-Chef traf Peter Voser die Staatschefs persönlich, hier Russlands Präsident Vladimir Putin.
© Getty
Gerade globalisierte Manager wie Sie sind vielen Menschen suspekt: Sie haben als Shell-Chef schon Verträge mit Russlands Präsident Putin unterzeichnet, Sie treffen auch mal die Machthaber in China… Es geht nur um Deals!
Nein. In Gesprächen mit Politikern solcher Länder kommt man durchaus auch auf kritische Aspekte zu sprechen, allerdings mache ich danach keine Pressekonferenz. Ich bin in China im internationalen Beratungskomitee des Bürgermeisters von Schanghai und ebenso von Peking, und ja, ich habe immer wieder einen Austausch mit Russlands Premier oder auch mit Putin. Aber bei solchen Treffen darf man durchaus sagen, was man für falsch hält.
Meine Erfahrung ist, dass diese Politiker es sogar schätzen, wenn man hinter verschlossenen Türen ehrlich und offen mit ihnen spricht. Oft sieht man kleine Fortschritte. In Saudi-Arabien etwa veranstaltet ABB Formel-E-Rennen. Letztes Jahr waren erstmals Frauen ohne Schleier anwesend, und am Abend besuchten sie die Konzerte genauso wie die Männer. Das war neu.
Wenn die Wirtschaft wieder Vertrauen gewinnen soll, dann darf sie nicht nur zahlengesteuert sein. Genau das ist aber Ihr neuer CEO, Björn Rosengren: Seit März spart er und baut Personal ab.
Nein. Wir haben ihn gewählt, weil er die ABB-Strategie umsetzen soll, und das tut er. Wir überprüfen, welche Geschäfte zu unserer Strategie passen. Kommen wir zum Schluss, dass ein Verkauf und die Einbettung in ein anderes Unternehmen besser ist, so bedeutet das nicht einfach Abbau. Das zeigte sich bereits bei der Stromnetzsparte…
…die Sie an die japanische Firma Hitachi verkauft haben. Unter dem neuen CEO geht der Ausverkauf weiter: Drei Geschäfte will er loswerden, darunter das 96 Jahre alte Geschäft mit Turboladern in Baden.
Noch einmal: Es geht um die Umsetzung der Strategie, nicht darum, etwas loszuwerden. Das richtige Portfolio zu haben, ist eine ziemlich rationale Sache, und Björn Rosengren geht emotionslos an dieses Thema heran – zu Recht. Was ich bei ABB nicht will: Geschäfte, die zwar hohe Margen haben, aber nicht zu uns passen. ABB hat sich zwanzig Jahre lang schwergetan, solche Betriebe zu verkaufen.
Und jetzt wird gnadenlos geschrumpft und verkauft?
Wir müssen bei der Umsetzung der Strategie ein Stück weit ehrlicher vorgehen, wenn wir im langfristigen Interesse des Unternehmens handeln wollen. Wir wollen wachsen – mit drei bis fünf Prozent im Jahr. Aber es geht nicht nur darum, gross zu sein. Mir ist ein Unternehmen lieber, das kleiner ist, dafür aber wächst und profitabel ist. Mit Björn Rosengren haben wir einen Mann geholt, der nüchtern das Beste für jedes Geschäft sucht. Und das Beste ist nicht immer ABB.
Das Turbolader-Geschäft (langes Gebäude links) hat in Baden einen hohen Stellenwert und beschäftigt hier 800 Mitarbeitende.
© Patrik Müller (5. Dezember 2020)
Nochmals zu den Turboladern in Baden. Sie stammen selber aus dieser Region. Und jetzt verabschieden Sie diese 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines traditionsreichen Bereichs einfach mir nichts, dir nichts!
Ich verstehe diese Emotionen, und es gibt sie ja auch bei mir. Aber sehen Sie: Das Turbolader-Geschäft wird ja nicht geschlossen, ganz im Gegenteil. Eine der Möglichkeiten, die wir prüfen, ist eine Verselbstständigung des Geschäftes, und dann bringen wir es an die Schweizer Börse. Diese selbstständige Firma wird Leute brauchen, weil sie alles selber machen muss: Risikoanalyse, Marketing, Branding und so weiter. Ich bin sicher, für das Management ist das sehr viel spannender, als bloss Teil eines Konzerns zu sein. Das macht mehr Spass. Und vor allem glauben wir, dass die Firma so die bessere Zukunft haben könnte. Es werden natürlich auch andere Varianten geprüft.
Warum soll denn ihre Zukunft innerhalb von ABB schlechter sein als allein?
Es schadet, etwas lange zu behalten, was nicht zur Strategie gehört. Denn so erhält dieses Geschäft weniger Geld für Investitionen und wird kurzgehalten bei Zukäufen. Das gilt es zu vermeiden. Ich habe das schon oft gesehen: Die Geschäfte, die wir verkaufen, florieren besser, wenn sie ABB verlassen haben.
Nicht immer. Als ABB einst die historisch prägende Kraftwerksparte verkaufte, ging es stets bergab: Erst die französische Alstom und aktuell die amerikanische General Electric bauten dauernd ab.
Die Käufer machten Versprechen, die sie nicht hielten.
Ich kann nicht für Alstom oder GE sprechen. Ganz generell gilt: Wenn es schlecht läuft, muss sich eine Führungskraft hinstellen und sagen, was möglich ist und was nicht. Man sollte keine rosarote Zukunft malen, sondern die Fakten aufzeigen. Und wenn man von einer amerikanischen Firma gekauft wird, muss man wissen: Fakten sind dort Fakten, es wird anders entschieden.
Die ABB-Vorgängerfirma BBC hatte in Baden einst 22000 Mitarbeiter, jetzt zählt ABB schweizweit noch 4500 Leute, nach dem Turbolader-Verkauf werden es noch 3700 sein.
Ja, aber viele der verselbstständigten oder veräusserten Firmen bestehen erfolgreich weiter, mit ihren Arbeitsplätzen. Zudem investiert auch ABB, gerade in der Region Baden, aktuell etwa in Turgi. Wir wollen in den strategischen Geschäften wieder Zukäufe machen. Wir wollen die heutigen Bereiche stärken.
ABB hat ihren Sitz in der Schweiz, aber nur noch einen Bruchteil der weltweit 110000 Arbeitsplätze. Und in den Spitzenpositionen dominieren, abgesehen von Ihnen, die Schweden.
Das ist nicht richtig. Im Verwaltungsrat haben wir alle wesentlichen Entscheide einstimmig gefällt, unabhängig vom Pass seiner Mitglieder. Die Zusammensetzung nach Nationen ist nicht entscheidend und wechselt ohnehin mit der Zeit. In der Geschäftsleitung haben wir mit dem CEO und dem Kommunikationschef zwei Schweden, mehr nicht. Uns ist wichtig: Jeder im Konzern soll das Gefühl haben, er kann der nächste CEO sein; egal, woher er kommt.
Dennoch ist die schwedische Wallenberg-Familie der wichtigste Aktionär, und ihr Vertreter hat im Verwaltungsrat viel Gewicht.
Die Aktionäre können ein einziges Mal im Jahr ihren Einfluss ausüben: an der Generalversammlung. Ich werde mich nie und der Verwaltungsrat wird sich nie zu etwas zwingen lassen, von dem er nicht überzeugt ist. Das geschah bislang nicht und wird auch künftig nicht geschehen.