
Politikwissenschaftler Urs Vögeli: «Das Ständemehr ist ein hervorragendes Instrument!»
Herr Vögeli, Politikwissenschaftliche Beratung, so lautet Ihre Job-Bezeichnung. Was macht man als politikwissenschaftlicher Berater?
Ich führe mit einem Geschäftspartner seit zwei Jahren die Politikwissenschaftliche Beratung Schweiz GmbH. Wir definieren uns über Projekte und Inhalte. Wir sind eine Art moderner Übersetzungsdienstleister. Wir übersetzen zwischen Sphären und Lebensbereichen, die sich nicht mehr so richtig verstehen. Wir sind alles eher querdenkende Persönlichkeiten, mit vielseitigen Hintergründen.
Sie bauen zum Beispiel Modelle aus Lego-Steinen, die auch schon an Ausstellungen zu sehen waren. Wir haben darüber berichtet.
Genau. Früher habe ich komponiert und viel Musik gemacht. Mein Geschäftspartner hat mal Theologie studiert. Eines meiner Standbeine ist das Begleiten von Politikern. Damit habe ich angefangen, das ist inzwischen aber ein kleiner Teil.
Ein Mandat von Ihnen ist bekannt: Sie beraten den SVP-Nationalrat Thomas Burgherr. Was machen Sie für ihn?
Thomas Burgherr ist noch ein typischer Milizpolitiker, der sein eigenes Geschäft führt. Ich unterstütze ihn auf der politischen Seite, beispielsweise mit Recherchen.
Wie sieht denn eine typische Dienstleistung Ihrer GmbH aus?
Wir arbeiten beispielsweise in der Wissenschaftskommunikation. Plakativ gesagt: Auch Wissenschaftler merken, dass sie sich in Bubbles, in Echokammern, befinden. Früher sprach man vom Elfenbeinturm. Viele realisieren inzwischen, dass sie näher an den Puls der Menschen und der Gesellschaft gelangen müssen. Gerade Gesellschaftswissenschaftler haben Mühe zu vermitteln, was sie machen und was ihre Arbeit bringt. Wir helfen zu vernetzen, Dialoge aufzubauen und Räume zu finden, wo man sich begegnet. Wir haben zum Beispiel Aufträge des Schweizerischen Nationalfonds. Wir bringen Forschungsergebnisse zu Politikern, Akteuren in der Verwaltung, zu Start-ups oder auch zu NGOs.
Was ist der Unterschied zum Lobbying?
Wir versuchen nicht, Politiker zu beeinflussen. Es geht darum, Beziehungen aufzubauen und Räume zu schaffen, wo sich die Sphären begegnen und wieder gegenseitig verstehen können.
Reden wir über eine Diskussion, die seit ein paar Tagen geführt wird: die Abschaffung des Ständemehrs. Die ist wieder einmal hochgekocht, nachdem die Menschen im Land der Konzernverantwortungsinitiative ganz knapp zugestimmt haben, die Kantone aber nicht. Zunächst einmal: Was sagen Sie zu diesem knappen Ergebnis, das eine Art Jein ist?
Man sieht klar einen Stadt/Land-Graben sowie auch den Röstigraben. Es war aber erstaunlich, wie viele Kuriositäten bei dieser Abstimmung zu beobachten waren. Speziell war etwa die wichtige Rolle der Kirchen, und es gab Gräben durch alle Parteien hindurch. Bei fast allen Parteien gab es Persönlichkeiten, die sich dem einen oder anderen Lager angeschlossen haben. Das Resultat kann also im Nachhinein wenig erstaunen. Die Frage nach der Verantwortung der Konzerne ist zudem eine moralisch stark aufgeladene. Solche Fragen machen es leider immer schwieriger, miteinander zu diskutieren, weil es nur noch um Gut und Böse geht.
Postwendend kam ja jetzt die Forderung nach der Abschaffung des Ständemehrs, weil die Stimmberechtigten knapp zugestimmt haben, die Kantone aber nicht.
In einem halben Jahr ist diese Diskussion wieder vom Tisch, weil dann auch die emotionale Aufladung weg ist. Jene Kreise, aus denen jetzt diese Forderung kommt, kritisieren sonst gerne die Herrschaft und die Tyrannei der Massen. Genau das verhindert ja das Ständemehr.
Trotzdem: Wie berechtigt ist die Forderung? One man, one vote, kann man ja sagen.
Seit dem Jahr 2000 hat zwei Mal das Volks-Nein das Stände-Ja überstimmt, und zwei Mal hat das Stände-Nein das Volks-Ja überstimmt. Bei der Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe war es besonders krass: 16,5 von 23 Ständen stimmten zu, das Volk sagte knapp Nein. Damals hat auch niemand gefordert, das Volksmehr abzuschaffen. Das Ständemehr ist ja eben auch ein Volksmehr, einfach anders gezählt. Man gibt als Bürgerin oder Bürger quasi zweimal seine Stimme ab; einmal als Schweizer Bürgerin oder Bürger, einmal als Kantonsbürgerin oder -bürger. Dieser Ausgleich ist ein altes Motiv. Als die Eidgenossenschaft wuchs, schaute man peinlich genau darauf, dass beim Beitritt eines Stadtkantons auch ein Landkanton dazu kam. Dieses Austarieren war immer wichtig, weil sonst die Eidgenossenschaft zerrissen worden wäre. Das ist auch heute noch der Hintergrund – und gilt nach wie vor. Sonst könnten die urbanen Massen die ländlichen Gebiete regelmässig überstimmen. Das könnte massive Konflikte und Spannungen auslösen. Minderheiten würden überrollt.
Man könnte sich immerhin Reformschritte überlegen. Zum Beispiel: Das Volksmehr soll nur von mindestens zwei Dritteln der Stände überstimmt werden können.
Dann müsste es umgekehrt auch gelten. Nochmals zur Heiratsstrafe als Beispiel: Wenn 16,5 Stände Ja und 6,5 Stände Nein sagen, bräuchte es auch eine Zwei-Drittels-Mehrheit beim Volk, um das Ja zu verhindern. Man müsste so eine Reform paritätisch aufbauen. Staatspolitisch stellt sich die Grundfrage, was der Sinn des Ständemehrs ist. Die Antwort ist: Es ist auch ein reflexives Instrument. Volksinitiativen sind meist Maximalforderungen. Sie stossen politische Innovationen an und lancieren Debatten – sei über die Verantwortung von Konzernen oder das Recht von Kühen, Hörner zu tragen. Das System des doppelten Mehrs ermöglicht Innovationen und Debatten, verhindert aber Maximalforderungen.
Eine notwendige Bremse im System?
Das kann man so sagen. Und es ist ein Mittel gegen zentrale Lösungen, zum Beispiel die Einheitskrankenkasse. Das kann man ja mal in einem Kanton ausprobieren. Der konstante Dialog und das Ausbalancieren werden mit diesem System aufrechterhalten. Sonst befiehlt einfach die Gewinnerseite top-down.
Eine Idee wäre, den fünf grössten Städten je eine Standesstimme zu geben.
Das Gewicht der Städte ist ja schon im System drin. Es manifestiert sich ja schon übers Volksmehr. Sie überstimmen, um nochmals beim Beispiel der Heiratsstrafe zu bleiben, 16,5 Stände. Ländliche Gebiete können keine Reformen durchbringen, ohne die Massen aus den Städten davon zu überzeugen. Und umgekehrt!
Wenn man Ihnen so zuhört, muss man sagen: Das Ständemehr ist eine hervorragende Sache.
Es ist hervorragend! Spannen wir den Bogen zu Amerika. Dort ist das System bei der Wahl des Präsidenten, der auch nicht über ein einfaches Volksmehr bestimmt wird, hochkomplex und intransparent. Unser System ist sehr viel einfacher und für alle klar. Die Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative haben eine coole Kampagne gemacht, Hut ab. Aber wenn es eine Kampagne verpasst, sich über das Ständemehr Gedanken zu machen, dann ist das auch ein Versagen der Kampagne. Dann finde ich es schwierig, dem System die Schuld zuzuschieben.
Apropos Amerika: Was denken Sie über die Weigerung Trumps, das Wahlergebnis zu anerkennen und seine Vorwürfe, die Wahl sei manipuliert gewesen?
Das ist Showbusiness. Trump ging immer an die Grenze um zu sehen, was das System aushält. Ich glaube nicht, dass er über die Grenze geht, weil das toleriert das System nicht. Die Checks und Balances in den USA funktionieren, auch das föderalistische Moment. Wenn Trump aus dem Pariser Klima-Abkommen austritt, dann tritt halt Kalifornien bei. Die USA sind institutionell nicht gefährdet, vielleicht kulturell, weil sich die Spaltung über Jahre aufgebaut hat. Trump ist die Manifestation davon. Wenn die Wahlmänner abgestimmt haben, wird er das Weisse Haus verlassen.
Hat die Schweizer Demokratie Reformbedarf?
Bei der Partizipation auf kommunaler und kantonaler Stufe sehe ich Reformbedarf. Dass die Leute wieder mehr mitreden und mitgestalten, fände ich sehr wichtig. Ich sehe da grosses Innovationspotenzial in ländlichen und urbanen Gebieten.
Wie Zofingen.
Ja. Wie schafft man es, über schon bestehende Kreise und Milieus hinauszukommen und einen Dialog aufzubauen? Es wäre eine Stärke der Schweiz, das Aufbrechen von Lagern haben wir in unserer Kultur drin, beispielsweise mit unserer Vereins- und Milizkultur. Dass Leute zusammenkommen, die sonst nicht zusammenkommen. Wichtig sind auch Gestaltungsmöglichkeiten. Wenn jemand Gemeinderat wird, dann will er etwas bewegen, und nicht nur Gemeinderat spielen. Wenn eine Gemeinde etwa im Bildungsbereich etwas Innovatives ausprobieren möchte, sollte sie das vermehrt tun können.
Gibt es Bedrohungen für Schweizer Demokratie?
Ich persönlich sehe in der Zentralisierung eine Bedrohung, vor allem, wenn man über Bern hinaus zentralisiert, etwa nach Brüssel mit dem Rahmenankommen. Wenn in den Gemeinden und Kantonen noch weniger Spielraum herrscht, hat das viel Potenzial, dass die lokale Demokratie und das Milizsystem erodieren.
Zur Person
Urs Vögeli studierte Politikwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2016 arbeitet er an einem Dissertationsprojekt zum Thema Demokratie und Menschenrechte. Er war von 2013 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Generalsekretariat der SVP Schweiz und arbeitete danach als selbstständiger Politikberater. Seit 2016 ist er Mitinhaber des Effinger Coworking Space Bern, seit 2019 Teilhaber und Geschäftsführer der Firma Politikwissenschaftliche Beratung Schweiz GmbH. Zudem ist er Gründungsmitglied und Co-Direktor des Swiss Institute for Global Affairs (SIGA). Urs Vögeli bekleidet im Militär den Rang eines Majors; er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Zofingen.