
«Die Lebensfreude auf dem Balkan ist grösser als hier»
D. P., wie können Sie ein Kroate sein, obwohl Sie im heutigen Bosnien und Herzegowina auf die Welt kamen?
D. P.: Auf dem Balkan gibt es einerseits die Nationalität einer Person, die abhängig von der geografischen Lage ist. Andererseits gibt es die Volkszugehörigkeit. Diese ist abhängig vom Nachnamen, der Religion und Kultur. Es gibt Regionen mit kroatisch-stämmigen Menschen sowohl in Bosnien wie auch in Serbien. Bosnien ist in dieser Hinsicht sehr speziell, da auch die Regierung auf die drei Volksgruppen aufgeteilt ist. Es gibt eine serbische, eine muslimische und eine kroatische Vertretung.
Was haben Sie noch vom Krieg zwischen den drei Völkern miterlebt?
Fast nichts. Glücklicherweise kam auch niemand aus meiner engsten Verwandtschaft zu Tode deswegen.
Trotzdem gibt es viele junge Leute, die Wut gegenüber den anderen Nationen verspüren, obwohl sie, wie Sie, nichts vom Krieg miterlebt haben. Können Sie das verstehen?
Wenn jemand ein Familienmitglied im Krieg verloren hat, dann kann ich das verstehen. Zudem kommt hinzu, dass Eltern nicht nur Ängste an die Kinder weitergeben, sondern auch Zorn und die Einstellung gegenüber anderen Menschengruppen.
Sollte sich das nicht spätestens dann ändern, wenn man in ein Alter kommt, in dem man sich reflektieren kann?
Die Frage ist, wie offen der Geist für einen Perspektivenwechsel ist. Meiner Meinung nach ändern sich Menschen erst dann, wenn sie müssen. Wenn diese Leute ihr ganzes Leben in den gleichen Kreisen mit denselben Ansichten verbringen, besteht keine Notwendigkeit, sich zu ändern.
Hegen Sie Zorn gegenüber den anderen Nationen auf dem Balkan?
Nein, überhaupt nicht. Hier in der Schweiz ist es noch einmal anders. Wenn ich während der Militärzeit oder der Ausbildung Personen aus dem Balkan kennengelernt habe, dann spielte es keine Rolle, ob jemand Kroate, Serbe oder Bosniak war. Man konnte sich in der Muttersprache verständigen und das verbindet einen.
In welches Land reisen Sie, wenn sie Ihre Familie besuchen möchten?
Kroatien und Bosnien. In unserer Gemeinde bei Zavidovići gibt es beispielsweise einen Feiertag im Sommer, der als Gelegenheit für ein Familientreffen fungiert. An diesem Tag treffen sich die meisten Verwandten, die aus Deutschland, Österreich und Italien anreisen.
Wo sehen Sie Unterschiede zwischen der Schweiz und Kroatien beziehungsweise Bosnien?
Unterschiede gibt es wie Sand am Meer (lacht). Wo soll ich anfangen?
Bei der schulischen Ausbildung.
So, wie meine Verwandten früher erzählt haben, hatten sehr viele Schüler die Bestnote 5 als Durchschnitt in allen Fächern. Wenn ich zurückdenke an meine Klasse in der Schweiz, dann kommt mir niemand in den Sinn, der eine 6 im Jahresdurchschnitt in allen Fächern hatte. Das Bildungssystem ist einfach anders.
Und wie sieht es in der Arbeitswelt aus?
In der Schweiz ist alles geregelt und strukturiert. Man arbeitet von 7 bis 5 Uhr und die Pausen sind zeitlich festgelegt. Wenn ich hier ein Schreiben brauche, weiss ich in der Regel, an wen ich mich wenden muss. Auf dem Balkan ist alles ein bisschen flexibler. Wenn man auf dem Balkan ein amtliches Dokument braucht, hilft es, wenn man jemanden kennt.
Das klingt nach Korruption.
Nicht direkt Korruption, beispielsweise erhalte ich durch einen Bekannten auf der Verwaltung das nötige Dokument innerhalb von Stunden und nicht erst in ein paar Wochen. Ohne Beziehungen würde man in einer Warteschlange landen und wäre auf einen nur halb funktionierenden Bürokratieapparat angewiesen.
Gibt es noch weitere Unterschiede?
Auch die Mentalität unterscheidet sich. Ich würde sagen, dass die Lebensfreude auf dem Balkan grösser ist als hier. Wenn wir uns in Kroatien auf ein Bier treffen, kann es auch schon Mal 5 Uhr früh oder später werden. Dass man eine Stunde danach zur Arbeit muss, interessiert dann die Wenigsten. In der Schweiz ist es viel geplanter. Noch vor Beginn des Treffens haben die meisten schon für sich selbst die Uhrzeit ihres Aufbruchs festgelegt.
Haben Sie Situationen in der Schweiz erlebt, in denen Sie als Kroate abgestempelt wurden?
Nein, nie. Auf jeden Fall wäre es mir nie aufgefallen.
Empfinden Sie es als Beleidigung, wenn Sie jemand «Jugo» nennt?
Ich werde ab und an im Freundeskreis Jugo genannt, aber dann meint man es auch eher aus Spass und will keine Kränkung übermitteln. Beleidigt hat mich das Wort «Jugo» noch nie.
Wie reagieren Sie denn auf Schubladisierungen in Ihrem Umfeld?
In meinem Freundeskreis sind Schubladisierungen kein Thema gewesen. Ich bin mit Freunden unterschiedlicher Herkunft aufgewachsen. Wenn mal ein Spruch über Schwarze, Asiaten, Italiener oder Jugos kommt, dann nur als ironisch gemeinter Scherz und über Menschen, die man kennt.
Haben Sie Vorurteile gegenüber anderen Menschengruppen?
Ich habe in meinem Leben alle möglichen Menschen aus verschiedenen Nationen getroffen. Es gibt keine Nationalität oder Volksgruppe, die den einzig richtigen Weg eingeschlagen hat. Sowohl schlechte wie auch gute Menschen sind überall vertreten.
Also haben Sie keine Vorurteile?
Wahrscheinlich schon, aber ich versuche trotzdem, den Menschen nach seinem Verhalten und dem Charakter zu beurteilen und nicht nach seiner Herkunft oder Nationalität. Wichtig ist doch, dass man sich von den eigenen Vorurteilen nicht leiten lässt. Man kann sie im Hinterkopf behalten, aber man soll sich nicht davon blenden lassen.
Zur Person
D. P. (29) kam noch im damaligen Jugoslawien auf die Welt. Sein Geburtsort Zavidovići liegt auf dem heutigen Territorium von Bosnien und Herzegowina. Für die Geburt reiste seine Mutter, die sich damals bereits in der Schweiz befand, nach Jugoslawien zurück, weil dort die medizinische Versorgung staatlich geregelt war. Sein Vater war schon Jahre vor dem Krieg in der Schweiz als Saisonarbeiter tätig. Als die Spannungen zwischen den Balkanländern immer stärker wurden, beschlossen seine Eltern, mit ihm und seiner älteren Schwester vorerst in der Schweiz zu bleiben. Seine Kindheit verbrachte er in Thun. Später lebte er lange in Bern. Heute arbeitet er als Projektleiter im Bereich Tiefbau und wohnt seit Anfang Jahr im Bezirk Zofingen.
«Jeder, der mit dir verwandt ist, ist Teil der Familie, egal ob im zweiten, dritten oder vierten Grad»
«Achtung, fertig, Vorurteile» – Das sagt D. P. zu den gängigen Vorurteilen gegenüber Personen aus dem Balkan
Ob Kroatien, Bosnien, Serbien: Das ist doch alles das Gleiche.
So gleich wie Deutschland und die Schweiz. Jedes Land hat etwas Eigenes. Es ist nicht das Gleiche, es gibt Unterschiede.
Leute vom Balkan protzen häufig mit ihrem BMW.
Diese Aussage hat eine gewisse Ehrlichkeit (lacht). Ich zum Beispiel fahre aber keinen.
Leute vom Balkan feiern viele Feste und trinken viel Alkohol.
(trinkt einen Schluck Bier) Kein Kommentar (lacht). Ja, das stimmt wohl.
Leute vom Balkan haben viel zu häufig Jogginghosen an.
Ich sehe allgemein wenig Leute mit Jogginghosen draussen. Auf alle Fälle haben wir sie gerne zuhause an. Aber draussen … Ich gehe beispielsweise nicht mit Jogginghosen einkaufen.
Leute vom Balkan tun immer so, als ob sie tausende Cousinen und Cousins hätten.
Ja, wobei man sagen muss, dass auf dem Balkan Familie grossgeschrieben wird. Jeder, der mit dir verwandt ist, ist Teil der Familie. Da spielt es keine Rolle, ob es der zweite, dritte oder vierte Grad ist. Da machen wir wenig Unterschiede. In der Schweiz beobachtet man das weniger. Hier sagt man klar ob es der Cousin oder der Cou-Cousin ist. Das gilt bei uns noch als interne Familie (lacht). Erst ab dem fünften oder sechsten Grad bist du dir nicht mehr sicher, ob der- oder diejenige überhaupt noch mit dir verwandt ist oder nicht.
Leute vom Balkan sind gastfreundlich.
Ja, das stimmt.
Ein Essen ohne Fleisch ist auf dem Balkan kein Essen.
Das stimmt grundsätzlich auch, wobei man sagen muss, dass religiöse Kroaten freitags jeweils fasten, manchmal sogar dienstags. Dann ist höchstens Fisch auf dem Tagesmenu.
Die Männer vom Balkan sind Paschas und helfen nicht im Haushalt mit.
Bei der älteren Generation waren es hauptsächlich die Frauen, die den Haushalt führten. Aber das war auch hier in der Schweiz nicht anders. Die neue Generation hilft schon mehr mit im Haushalt.
Auf dem Balkan gilt: Blut ist dicker als Wasser.
Ja, das ist so.