
Alt-Oberrichter springt Andreas Glarner nach Urteil zur Seite: «Wer hat diese Mannschaft zusammengewürfelt?»
Aargauer Obergericht, 7. Januar. Andreas Glarner hatte die Schuldigen für seine Niederlage schnell ausgemacht: die Richter. «Zweimal SP und einmal GLP, da kannst du nur verlieren», liess er sich nach dem Prozess zur Zusammensetzung des Gerichts zitieren. Es ging um üble Nachrede. Der SVP-Nationalrat war vor drei Jahren auf Facebook beschimpft, in einem Gruppenchat als «dummer Mensch», «infantiler Dummschwätzer» und «ganz übler, verlogener Profiteur» verunglimpft worden. Glarner klagte. Ende 2018 verlor er vor Bezirksgericht, legte Berufung ein, nun blitzte er auch in zweiter Instanz ab.
Mit der Aussage nach dem Prozess zweifelte der SVP-Nationalrat mehr oder weniger direkt die Unabhängigkeit des Obergerichts an. Das könnte man einfach als Einwand eines schlechten Verlierers abtun. Wenn da nicht Jürg Fehr wäre. Der pensionierte Oberrichter und ehemalige Staatsanwalt hat den Prozess als Aussenstehender mitverfolgt. In einem Mail an die AZ springt er Glarner zur Seite: «Es ist nur schwer verständlich, dass es das Strafgericht fertigbringt, diesen Fall, der auch eine politische Komponente hat, in einer solchen Konstellation zu beurteilen.» Fehr verlangte eine Erklärung. In einem weiteren Mail, das dieser Zeitung ebenfalls vorliegt, schrieb er vor kurzem an die Adresse der Kommunikationsstelle der Aargauer Gerichte: «Wer hat diese Mannschaft zusammengewürfelt?»
Jürg Fehr war lange Oberrichter, allerdings nie am Strafgericht tätig, wie er sagt. «Dementsprechend kenne ich die dortigen Gepflogenheiten nicht.» Klarheit bringt ein Blick in die Geschäftsordnung des Obergerichts. Für den Fall um Andreas Glarner zuständig war die 2. Strafkammer. Die Kammer hat fünf Mitglieder und eine Ersatzrichterin. Zwei der Richter sind von der SP, zwei von der SVP, ein Richter von der GLP. Bei jedem Fall dabei ist die Präsidentin der 2. Strafkammer, SP-Richterin Franziska Plüss. Die anderen beiden Richter ermittelt die Kanzlei anhand eines sogenannten Verteilschlüssels. «Nach dem Zufallsprinzip» teile man die Fälle auf die einzelnen Richter zu, erklärt die Kommunikationsstelle der Aargauer Gerichte in ihrer Antwort an Alt-Oberrichter Fehr.
Die Präsidentin oder der Präsident jeder Kammer darf in Ausnahmefällen Abweichungen von der Zusammensetzung anordnen. Gründe sind zum Beispiel Fachkenntnisse in einem bestimmten Bereich, Mitwirkung bei früheren Entscheiden im selben Sachgebiet, aber auch offensichtlichere Dinge wie Absenzen bei Krankheit oder die Arbeitsbelastung der Richter. Auf die Parteizugehörigkeit wird jedoch nie Rücksicht genommen.
Dass im Prozess um SVP-Mann Glarner drei Richter der politischen Linken und Mitte das Urteil fällten, war also Zufall. Einverstanden ist Jürg Fehr mit dieser Begründung nicht. Er finde es «äusserst fragwürdig und unbefriedigend», dass der Ausgang eines Strafverfahrens von einem zufälligen Verteilschlüssel abhängig sei. «Wenn sich die Kombination SP/SVP/SVP ergeben hätte, wäre der Angeklagte mit einiger Wahrscheinlichkeit verurteilt worden», gibt Fehr zu bedenken.
Hätte auf der Richterbank also mindestens ein SVP-Richter sitzen müssen? Nein, sagt der emeritierte Staatsrechts-Professor Georg Müller: «Die Kanzlei des Obergerichts hat sich an die Geschäftsordnung gehalten. Aus juristischer Sicht ist die Zusammensetzung einwandfrei.» Wenn die Kanzlei bei der Auswahl auf die Partei geachtet hätte, wäre das falsch gewesen, sagt Müller. «Dann könnte man der Kammer zu Recht Befangenheit vorwerfen.»
Von diesem Argument hält Jürg Fehr wenig. «Die Vorstellung, dass Richter ihr Parteibüchlein in der Garderobe abgeben, ist reichlich naiv», sagt Fehr, laut eigener Aussage seit 50 Jahren FDP-Mitglied. Natürlich gebe es unzählige Beispiele, in denen die politische Herkunft gar keine Rolle spiele. «Aber in Fällen wie diesem kommt sie eben zum Tragen», findet er.
Was meint man beim Obergericht zu Fehrs Vorwürfen? Auf Anfrage schreibt Nicole Payllier, Leiterin Kommunikation der Aargauer Gerichte: «Wie in allen Gerichtsverfahren spielte die Parteizugehörigkeit auch im vorliegenden Fall keine Rolle.» Die Richter würden stets unabhängig, unparteiisch und frei von sachfremden Einflüssen entscheiden. «Sie stützen sich einzig auf die gesetzlichen Vorgaben.»
Für das Obergericht ist die Sache damit erledigt. Ob Andreas Glarner den Fall auch noch vor Bundesgericht zieht, bleibt offen. Erst vor ein paar Tagen habe er die schriftliche Urteilsbegründung erhalten, sein Anwalt und er hätten sich noch nicht beraten, sagt Glarner. Vor etwas mehr als zwei Jahren ging der SVP-Nationalrat übrigens schon einmal wegen übler Nachrede vor Gericht. Ein Student hatte ihn in einem Tweet als «Pädophilen» bezeichnet. Und Glarner gewann: Erst gaben ihm die Bezirksrichter in Bremgarten recht, danach auch das Aargauer Obergericht. Die damaligen Parteien im Richtertrio: zweimal SP, einmal GLP.
Weshalb die meisten Richter am Obergericht SVP-Mitglied sind
Justiz und Politik Das Aargauer Obergericht setzt sich aus den Abteilungen Zivilgericht, Strafgericht, Versicherungsgericht, Verwaltungsgericht und Handelsgericht zusammen. Insgesamt 27 Oberrichter zählt es derzeit. Den grössten Anteil stellt die SVP mit neun Richtern, gefolgt von der SP mit fünf. Je vier Oberrichter gehören der CVP und der FDP an, GLP und Grüne sind mit zweien vertreten, die EVP mit einem. Alle Richter kommen in mehreren Kammern zum Einsatz.
Während Bezirksrichter vom Volk gewählt werden, bestellen die 140 Mitglieder des Grossen Rates die Oberrichterinnen und Oberrichter. Die Parteienverteilung im Obergericht richtet sich in der Regel nach der Parteienstärke im kantonalen Parlament. Das heisst: Die SVP hat als stärkste Partei auch die meisten Richter im Obergericht. Rechtlich bindend ist dieser Proporzschlüssel aber nicht, er ist vergleichbar mit der Zauberformel im Bundesrat. Wenn Oberrichter vorzeitig zurücktreten oder aber eine Partei gerade nicht genügend Richterkandidaten zur Auswahl stellt, kann es auch zu leichten Über- und Untervertretungen kommen. Bestehende Oberrichter werden im Normalfall vom Grossen Rat wiedergewählt. Eine Amtszeit dauert jeweils vier Jahre, eine Beschränkung gibt es nicht. Die laufende Amtsperiode hat am 1. Januar 2019 begonnen und endet am 31. Dezember 2022. (frh)