Wenn Besucher in Museen selbst zum Kunstwerk werden – dank Selfiepoints

Täglich werden weltweit mehr als 100 Millionen Selfies auf sozialen Medien hochgeladen. Allein auf Instagram kommen jede Sekunde rund 1000 Selbstpor- träts hinzu. Mittlerweile kann von einem regelrechten Selfie-Wahn gesprochen werden.

 

Selfies gelten als Beweis dafür, dass man tatsächlich an einem Event dabei war. Zur richtigen Inszenierung eines Selfies gehören auch die Umgebung und der Hintergrund dazu, kurz die Kulisse. Ein Selfie ist immer nur so gut wie die Kulisse, die den Selbstdarsteller umgibt.

In den USA schlagen Museen deshalb einen neuen Weg ein und machen die Besucher gleich selbst zum Kunstwerk. Die Museen bieten vermehrt Selfiepoints an, also Orte innerhalb des Museums, die speziell für die Aufnahme von Selfies konzipiert sind. Besucher fotografieren sich nicht mehr nur vor einem van Gogh oder Picasso, sondern vor einer dekorativen Traumwelt.

Besucher werden zu Kleinkindern
In San Francisco eröffnete bereits 2016 das «Museum of Ice Cream». Besucher dürfen in ein riesiges Becken eintauchen, in dem es mehr als 100 Millionen Sprinkles aus Kunststoff gibt. Sprinkles sind üblicherweise kleine bunte essbare Teilchen aus Zucker, die – vor allem in den USA – als Dekoration auf Glacen und Donuts dienen. Auf dem Instagram-Account des Museums, dem mehr als 400’000 Menschen folgen, sind Hunderte Fotos von Besuchern zu finden, die sich – ähnlich wie Kinder in einem Bällchenbad – in den Sprinkles austoben.

Museumsbesucher werden zu Kleinkindern und müssen das sofort auf Instagram mit der Welt teilen. Pikant an der Sache: Mittlerweile hat das Museum wegen der Millionen von Plastik-Sprinkles eine Klage von Umweltverbänden am Hals, weil Besucher die kleinen Teilchen – ähnlich wie Konfetti – in den Haaren und Kleidern ungewollt mit auf die Strasse nehmen und so in das Ökosystem einschleusen.

Im New Yorker «Egg House» können sich Besucher in überdimensional grossen Eierkartons fotografieren oder in einem Pool voller weisser und gelber Kunststoffeier «schwimmen». Knapp 5000 Kilometer entfernt, in Los Angeles, wurde im vergangenen Frühling die Selfiekultur während einiger Wochen mit einem Pop-up-Museum gewürdigt, dem «Museum of Selfies». Neben «normalen» Selfiemaniacs wollen solche Event-Museen vor allem Influencer anlocken, Leute, die ihre Fotos mit Tausenden von Followern teilen.

Die Breitenwirkung, die auf sozialen Medien durch Influencer erzielt wird, ist immens. Noch grösser ist die Wirkung, wenn sich Stars vor den Kulissen in Szene setzen. Das «Museum of Ice Cream» hatte vor einigen Wochen sogar Besuch von Kim Kardashian. Das amerikanische Model setzte sich ins Sprinkle-Bad. Die Besucherzahlen explodierten anschliessend, und das Museum meldete «sold out».

In Los Angeles gibt es auch das «Museum of Illusions», das rund 48’000 Follower auf Instagram verzeichnet. Hier können sich Besucherinnen und Besucher vor optischen, akustischen oder mechanischen Täuschungen und Illusionen ablichten. Es sind Räume, die so konzipiert sind, dass sie auf den Fotos eine perspektivische Verzerrung erzeugen, die Menschen, je nach Positionierung im Raum, grösser oder kleiner erscheinen lassen.

Technische Illusionen gibt es bereits seit mindestens 3500 Jahren; die neuen Museumskonzepte bereiten die uralten Techniken lediglich für die Selfie-Generation neu auf. Die amerikanische Idee hat seit Anfang August auch einen Ableger am Alexanderplatz in Berlin, wo ebenfalls ein Museum der Illusionen eröffnet hat.

In der Schweiz noch kein Thema
In der Schweiz gibt es noch kein Museum, das auf Selfies spezialisiert ist. Einige Museums-Verantwortliche haben von solchen Konzepten auch noch nie gehört, wie eine Umfrage zeigt. In den meisten Schweizer Museen dürfen sich Besucher zwar ohne Blitz, Selfiestick oder Stativ vor Kunstwerken fotografieren, eigens dafür vorgesehene Selfiepoints gibt es aber nicht.

Einen ersten Schritt in diese Richtung macht das Kunstmuseum St. Gallen. An der kommenden Museumsnacht können sich Besucher in der übergrossen Couch der Videokünstlerin Pipilotti Rist fotografieren lassen. Im Kunstmuseum Luzern hat vor einiger Zeit die Künstlerin Claudia Comte einen Selfiepoint eingerichtet, der es Besuchern erlaubte, Fotos vor einem künstlichen Hintergrund zu schiessen.

Das Fotografieren von Kunstwerken bewegt sich jedoch rechtlich in einem Graubereich, sind Kunstwerke in der Regel doch urheberrechtlich geschützt. Im Kunstmuseum St. Gallen werden die Besucher darauf hingewiesen, dass sie zwar fotografieren dürfen, für die Verbreitung auf sozialen Medien aber selbst verantwortlich sind.

Das heisst, Gegenwartskünstler, die bei der Verwertungsgesellschaft Pro Litteris angemeldet sind, könnten theoretisch rechtlich gegen Besucher vorgehen, die Werke auf Instagram posten. In der Praxis gibt es jedoch wenig Abmahnungen, da eine Kontrolle, wer was und wo postet, fast nicht möglich ist.

Bei Museen, die Werke aus den vergangenen Jahrhunderten zeigen, stellt sich das Urheberrechtsproblem sowieso nicht. Ist ein Künstler mindestens 70 Jahre tot, erlischt das Urheberrecht und das Werk wird gemeinfrei und kann – beispielsweise – von jedermann fotografiert und danach beliebig verändert werden.

Veränderte Kunst-Wahrnehmung
Dank Google Arts & Culture können praktisch alle Kunstwerke der Museen weltweit über das Netz angeschaut werden. Gleichzeitig hat sich durch die Selfiekultur und das Internet generell auch die Wahrnehmung von Kunst in den Museen verändert.

Wer nur noch ein Foto macht, um zu zeigen, dass er im Museum war, schenkt dem Werk nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Zeit, die es für die Betrachtung und Auseinandersetzung eigentlich braucht.

Auf Selfies ausgerichtete Museen stellen nicht mehr Werke von Künstlern in den Fokus, sondern dienen nur noch der Selbstinszenierung. Besucher werden selbst zum Kunstobjekt, eingebettet in eine bunte Erlebniswelt mit kitschigen Kulissen.