«Früher hat man getauft oder geheiratet, weil das alle so machten»

Christoph Weber-Berg (Archivbild Aargauer Zeitung: Sandra Ardizzone)
Christoph Weber-Berg (Archivbild Aargauer Zeitung: Sandra Ardizzone)
Weber-Berg (3. v. r.) an der Pressekonferenz zur 2. Langen Nacht der Kirchen im Aargau. Der Anlass fand zur gleichen Zeit in über 80 Kirchen im Kanton statt. (zVg)
Weber-Berg (3. v. r.) an der Pressekonferenz zur 2. Langen Nacht der Kirchen im Aargau. Der Anlass fand zur gleichen Zeit in über 80 Kirchen im Kanton statt. (zVg)

ZUR PERSON

Dr. Christoph Weber-Berg wurde 1964 in Teufenthal AG geboren. Er studierte Theologie und liess sich 1992 in Zürich zum Pfarrer ordinieren. Nach sechs Jahren als Pfarrer in der Kirchgemeinde Lenzburg-Hendschiken leitete er von 2001 bis 2008 die Fachstelle «Kirche & Wirtschaft» der Zürcher Landeskirche. Seit 2001 ist er als Gastdozent für Wirtschaftsethik an Hochschulen im In- und Ausland tätig. Von 2009 bis 2012 war er Dozent für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Hochschule für Wirtschaft Zürich und leitete das Center for Corporate Social Responsibility. Im Juni 2012 wählte die Synode der Aargauer Landeskirche Weber-Berg zum Präsidenten des Kirchenrates. Er präsidiert nach wie vor die Ökumenische Kommission Kirche-Wirtschaft. Christoph Weber-Berg wohnt in Staufen; er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.

Herr Weber, weshalb sind Sie Pfarrer geworden – war das schon eine Art Kindheitstraum?

Interessante Frage. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die sich für die Kirche engagierte – ich baute zum Beispiel zusammen mit einem Kollegen eine Jungschar auf. Und im Freundeskreis der Eltern gab es mehrere Pfarrfamilien. Pfarrer zu werden war keine Berufung, die ich an einem Ereignis festmachen kann; es war eine, die gewachsen ist. Ich habe den Weg nie bereut.

Haben Sie heute überhaupt noch Zeit für seelsorgerische Tätigkeiten?

Das steht als Kirchenratspräsident nicht im Zentrum. Ich bin – in dieser Reihenfolge – Manager, Politiker und Pfarrer. Als Manager führe ich die Landeskirchlichen Dienste der Reformierten Kirche Aargau mit etwas über 50 Mitarbeitenden. Als Politiker vertrete ich Dossiers innerhalb unserer Kirche, halte Kontakte zu politischen und gesellschaftlichen Gremien im Aargau und betreibe auf schweizerischer Ebene Kirchenpolitik. Als Pfarrer halte ich ab und zu einen Gottesdienst oder eine Predigt; zudem darf ich Pfarrer und Pfarrerinnen ordinieren – eine sehr schöne Aufgabe übrigens.

In zwei Wochen sind in den Aargauer Kirchgemeinden Wahlen; gewählt werden die Pfarrer, die Mitglieder der Kirchenpflegen sowie die Abgeordneten des Kirchenparlaments. In einigen Gemeinden gibt es aber zu wenig Leute, die ein Amt in einer Kirchenpflege übernehmen wollen. Haben Sie eine aktuelle Übersicht, wie viele Leute fehlen?

Eine systematische Übersicht habe ich nicht, das war aber schon bei den letzten Wahlen ein Thema. Es nicht leicht, Leute zu finden, die sich über eine längere Zeit ehrenamtlich für ein Gemeinwesen einsetzen. Bei den letzten Wahlen kam es viel besser, als wir zunächst befürchtet hatten – durch vielen Gemeinden ging ein Ruck – und es liessen sich doch noch Leute finden.

Was unternehmen Sie, damit sich wieder mehr Leute für diese Ämter engagieren?

Grundsätzlich ist die Autonomie der einzelnen Kirchgemeinden sehr hoch. Die Aufgabe, Leute für die Kirchenpflege zu rekrutieren, muss jede Gemeinde selbst meistern. Wir stellen ihnen aber Materialien für die Werbung zur Verfügung. Die Gemeinden sind aber selber kreativ und finden Lösungen.

Diverse Gemeinden müssen die Pensen ihrer Pfarrer reduzieren – wie viele sind betroffen?

Etliche, aber eine systematische Übersicht habe ich auch da nicht, da die Kirchgemeinden uns das nicht sofort melden.

Die Pensen werden reduziert, weil gespart werden muss. In Brittnau zum Beispiel gingen die Einnahmen aus den Kirchensteuern in den letzten zehn Jahren um 125’000 Franken zurück.

Ja, das sind Sparanstrengungen. Ab 2019 gilt auch in den Kirchgemeinden der neue Finanzausgleich. Bezugsberechtigt sind nur noch Gemeinden mit steuerschwächeren Mitgliedern; einige Gemeinden sind nicht mehr bezugsberechtigt oder nicht mehr im gleichen Ausmass. Das kann Gemeinden zu einer engeren Zusammenarbeit motivieren – dadurch entstehen auch Chancen.

Müsste man nicht über grössere Entwürfe nachdenken, beispielsweise ein Dutzend Kirchgemeinden zu einer zusammenzufassen?

Der Wille zur Zusammenarbeit muss von der aus Basis kommen. Im Kanton Zürich, wo Zusammenschlüsse auf kantonaler Ebene forciert werden, gibt es sehr viel Widerstand. Es ist besser, die Kirchgemeinden ergreifen von sich aus die Initiative. Mit dem neuen Finanzausgleich stellen wir quasi Kostenwahrheit her: Gemeinden mit einer hohen Steuerkraft, die Defizite schreiben, können diese nicht mehr einfach über den Finanzausgleich decken. Das setzt etwas Druck auf, aber mehr machen wir nicht. Wir sind der Dienstleister, der die Kirchgemeinden berät, zum Beispiel über die Fachstelle Gemeindeentwicklung. Wir unterstützen die Gemeinden, zwingen aber niemandem etwas auf. Übrigens sind grössere Einheiten nicht einfach ein Erfolgsrezept.

Eine Frage ist auch, wie man die vielen Gebäude besser nutzen könnte. Gibt es eine zentrale Immobilienstrategie?

Eine zentrale Immobilienstrategie verfolgen wir nicht – die Immobilien sind im Besitz der Kirchgemeinden. Aus einer Studie wissen wir aber, dass es Gemeinden gibt, die aus ihren Immobilien Erträge generieren können; andere können bessere Nutzungen anstreben, wieder andere haben kaum Potenzial. Wir wollen das Thema jetzt vertiefen und für die Kirchgemeinden Grundsätze im Umgang mit Immobilien erarbeiten. Eine zentrale Rolle spielt dabei unsere Fachstelle Gemeindeentwicklung; sie soll Gemeinden unterstützen, Strategien zu entwerfen, wie sie sich entwickeln können – dabei spielen auch die Immobilien eine Rolle.

1995 zählte die Landeskirche Aargau noch fast 204000 Mitglieder, letztes Jahr waren es noch 166500. Dieser Schwund dürfte anhalten. Was bedeutet das für die Landeskirche?

Der Schwund hat mit den Austritten zu tun, aber auch mit der Demografie: die reformierte Bevölkerung hat weniger Kinder und wird tendenziell immer älter. Das Thema ist für uns eine Herausforderung, aber man darf nicht ins Jammern verfallen. Wir müssen auch lernen, den kontaktlosen Mitgliedern mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Es gibt viele, die zahlen zwar Kirchensteuern, haben aber sonst ein distanziertes Verhältnis zu Kirche. Es gab die Tendenz, diesen Leuten zu sagen: «Du bist ein schlechtes Mitglied, ich sehe Dich nie in der Kirche!» Damit müssen wir aufhören. Ich mache einen flapsigen Vergleich: Es fahren auch nicht alle Greenpeace-Mitglieder Gummiboot, und sie sind trotzdem überzeugt dabei.

Es ist absehbar, dass Mitglieder der drei anerkannten Kirchen im Kanton bald eine Minderheit der Bevölkerung darstellen. Ist dann das heutige System, die Kirchensteuer mit der Steuererklärung einzuziehen, noch haltbar?

Ich bin dezidiert dafür, dass es ein legitimes und richtiges Modell ist. Die Organisation der Landeskirche ist auf den gleichen Pfeilern aufgebaut wie Rechtsstaat und Demokratie. Der Staat sorgt dafür, dass die grossen Religionsgemeinschaften auf zentrale Werte verpflichtet sind: Basisdemokratie, transparente Finanzen, Geistliche, die an staatlich anerkannten Universitäten ausgebildet werden. Dieses Modell hat der Schweiz in den letzten 150 Jahren religiösen Frieden beschert. Selbst wenn einst die Landeskirchen weniger als 50 Prozent der Bevölkerung umfassen sollten, zählen sie immer noch zu den grössten und wichtigen Organisationen im Kanton, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Wir haben beispielsweise ein Angebot in Palliative Care aufgebaut, ein Bereich, in dem der Kanton viel zu wenig macht.

Ein Weg wäre, mehr Religionsgemeinschaften die öffentlich-rechtliche Anerkennung zu geben. Konkret den muslimischen.

Wir sind Jahrzehnte und Generationen davon entfernt, dass eine muslimische Gemeinschaft öffentlich-rechtliche Anerkennung bekommen könnte. Aber: Ausschliessen tue ich es nicht, falls Menschen muslimischen Glaubens unser System – Demokratie, Rechtsstaat, Aufklärung – quasi schon mit der Muttermilch aufgesaugt haben. Man muss auch austreten können – da haben einige muslimische Gemeinschaften ein Problem, eigentlich kann man nicht austreten. Es ist auch undenkbar, dass eine Religionsgemeinschaft, die in der Schweiz von einem ausländischen Staat oder von ausländischen Stiftungen bezahlte Geistliche hat, die öffentlich-rechtliche Anerkennung bekommt.

Muss der Staat religiösen Gemeinschaften nicht einfach möglichst viel Freiheit in der Organisation lassen und sonst die Finger davonlassen?

Das macht er ja. Wir sind Partner des Staates, nicht unter Aufsicht des Staates. Der Staat setzt in der Kantonsverfassung einen Rechtsrahmen, an den wir uns zu halten haben. Darüber hinaus sind wir als Landeskirche frei.

Bei den Katholiken ist dieses Modell nicht unumstritten.

Ja. Dem Churer Bischofsvikar Martin Grichting sind die Landeskirchen ein Dorn im Auge. Er biedert sich bei den Ultraliberalen an, die sagen, Religion sei Privatsache. Warum? Er hat ein Problem mit einer demokratisch organisierten Kirche, bei der eine Frau an der Spitze steht wie im Kanton Zürich, wo eine Frau die katholische Landeskirche präsidiert. Das ist jemandem, der hierarchisch und katholisch-konservativ denkt, ein Dorn im Auge. Das Modell Landeskirche ist ein Zukunftsmodell nicht zuletzt gegenüber Vertretern von Religionsgemeinschaften, die eine Tendenz zu antidemokratischen und fundamentalistischen Ansichten haben.

Markant zurück geht auch die Zahl der Taufen und Heiraten. Zentrale Elemente religiöser Praxis scheinen auszusterben. Eine alarmierende Entwicklung oder einfach der Lauf der Zeit?

Früher hat man getauft oder geheiratet, weil das mehr oder weniger alle so machten – ob immer aus religiöser Überzeugung, sei dahingestellt. Ich weiss nicht, ob es eine bessere Kirche war, wenn die Leute zum Gottesdienst gingen, weil es sonst hiess: «Hast du gesehen, das Rösli und der Max waren am Sonntag nicht in der Kirche». Andererseits sind Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen für uns eine grosse Chance, Leute zu erreichen, die sonst weniger Kontakt zur Kirche haben.

Ohne religiöse Rituale und Praxis entleert sich doch der Glaube immer mehr; er löst sich in Luft auf.

Eine gelebte Religiosität ist an Rituale gebunden, richtig. Dieses Bedürfnis ist nicht bei allen Leuten gleich ausgeprägt. Die einen gehen mindestens dreimal pro Monat in die Kirche, beten und lesen jeden Morgen einen Bibeltext; für andere finden nur die wichtigen Lebensübergänge in der Kirche statt.

Vor 25 Jahren gab im Kanton noch über 800 reformierte Kirchentrauungen, letztes Jahr waren es noch 200.

Das will ich gar nicht bestreiten, hat aber auch mit der veränderten Altersstruktur zu tun. Wir müssen uns anstrengen, möglichst viele Leute zu erreichen. Andererseits stehen wir einem gesamtgesellschaftlichen Trend gegenüber, den wir kurzfristig nicht wenden können. Gleichzeitig bietet unsere Zeit aber auch viele Chancen, und die wollen wir packen. Dafür engagieren sich viele Menschen in unseren Kirchgemeinden.