
Stadtführer Urs Siegrist: «Casablanca ist für mich der schönste Spielfilm»
Zur Person
Urs Siegrist wurde am 11. Januar 1946 geboren. Er wuchs zusammen mit seinem Bruder in Zofingen und Strengelbach auf. Er besuchte die Bezirksschule in Zofingen und machte im Anschluss eine Lehre als Maschinenzeichner. Danach folgte ein Studium zum Maschineningenieur. Neben dem Studium arbeitete er als Conférencier auf der Bühne. Nach Abschluss seiner Ausbildungen arbeitete er für fünf Jahre in Zürich. Aufgrund seines Hobbys auf der Bühne, wurde er bald selbstständig. Nebenbei arbeitete er auch für das Schweizer Fernsehen und als Stadtführer in Zofingen. Heute arbeitet der 72-Jährige als Museumskurator und weiterhin auch als Stadtführer. Der Bühne kehrte er vor fünf Jahren den Rücken, dem Fernsehen vor eineinhalb.
Mehr Informationen zu den Stadtführungen finden sie unter www.zofingen.ch
Urs Siegrist, Sie hatten schon immer einen Bezug zur Geschichte?
Urs Siegrist: Das ist so. In der Schule in Zofingen hatten wir einen Lehrer, der uns mit der griechischen Mythologie, den griechischen Göttersagen und all diesen Dingen versorgt hat. Das hat mich immer ein bisschen gekitzelt. Das war für mich ein interessantes Gebiet.
Weshalb hat es Sie dann nach der Schule zum Maschinenzeichner-Beruf gezogen? Mit Geschichte hat das schliesslich wenig zu tun.
Mein Leben ist immer so wie die Jungfrau zum Kind kommt… Eigentlich sollte ich Lehrer werden, das war bestimmt. Aber dann habe ich mich mit einem meiner Lehrer verkracht. Kurz bevor ich an die Prüfung für das Semi gemusst hätte, entschied ich mich: Lehrer werde ich ganz sicher nicht. (lacht) Da ich auch ein Flair für Technik hatte, zog es mich dahin.
Nebst diesem Job arbeiteten Sie aber auch noch auf der Bühne.
Dieses Hobby hatte ich schon früh, damit hatte ich mir mein Studium finanziert, denn von zu Hause bekam ich dafür kein Geld. Ich war Conférencier. Das war früher der Mann, der Live Shows präsentierte. Das hat es früher einfach wirklich gebraucht. Wenn man eine Live Show auf einer Bühne machte, wenn das irgendein Gala-Abend war, ein Show-Abend oder ein Vereinsabend, wo man die Bühne umbauen musste, da erzählte einer dem Publikum währenddessen ein paar Gags. Das machte ich – und das machte ich sehr bald schon sehr erfolgreich. Das hat dann mein Leben total gesteuert.
Inwiefern?
Ich hatte ein Studienkollege der war Brasilianer. Der sagte immer, nach dem Studium gehe er zurück nach Brasilien. Das reizte mich immer. Nach zwei Jahren des Briefwechsels haben wir es dann geschafft: Ich konnte für einen Monat nach Brasilien. Das faszinierte mich natürlich. Hätte ich hier mein doofes Hobby nicht gehabt, dann wäre ich heute in Brasilien. Davon bin ich überzeugt. Ich hatte aber schon für ein ganzes Jahr Engagements und Verträge, die musste ich hier in der Schweiz erfüllen, also keine Chance.
Apropos Show-Business, später brachten Sie für das Fernseher das Publikum zum Lachen.
Genau, das ist dann auch daraus entstanden. Passiert ist es vor allem durch Walter Andreas Müller, WAM. Für die Fernsehproduktion «Fascht e Familie» brauchten sie jemanden. Was sie dort machen wollten, das war total amerikanisch, das hat in Europa sonst noch keiner gemacht: Sie zeichneten es live vor Publikum auf. Da es in dieser halbstündigen Sendung etwa drei Szenenwechsel gab, musste man zwei Mal umbauen. Diese Zeit musste überbrückt werden und wenn etwas schiefgelaufen war, musste die ganze Szene wiederholt werden. Man musste das Publikum bei Laune behalten. Müller sagte da dem Produzenten, er kenne jemanden, der wirklich improvisieren könne auf der Bühne und total mit dem Publikum arbeite. So kamen sie über einen Agenten zu mir. Sie sagten: «Wir machen einfach einen Versuch.» Da kniete ich mich natürlich rein und überlegte, was ich machen könnte. Ich hatte kein Zeitmass und wusste noch nicht, wie das da mit dem Publikum ablaufen würde. Also hatte ich mich einfach grausam vorbereitet. Vor fünf Jahren habe ich jetzt aufgehört auf der Bühne, vor eineinhalb im Fernsehen. Ich habe das ganze 45 Jahre lang gemacht und in diesen 45 Jahren machte ich über 4600 Veranstaltungen. Das reicht.
Als Lehrer haben Sie nebenbei auch noch gearbeitet.
Ja, ich war als Fachlehrer in Zofingen angestellt. Das machte ich immer gerne: Wissen weitergeben. Der Lehrer in mir ist auch nach wie vor lebendig in Zusammenhang mit den Stadtführungen. Das ist schliesslich auch nichts anderes, als Stoff auf eine gute Art weiterzugeben. Wie man das macht, habe ich vor allem auch auf der Bühne gelernt. Mein Rekord waren 13 000 Zuschauer vor der Nase.
Bei den Stadtführungen lässt sich das Publikum ja auch anheizen, oder?
Absolut und das ist vermutlich auch meine Stärke. Seit 1991, also noch bevor ich beim Fernsehen war, habe ich schon Stadtführungen gemacht.
Wie kam es denn überhaupt dazu? Das kann schliesslich auch nicht jeder machen.
Das ist ganz einfach. Zofingen war für mich immer wichtig, auch wenn ich in Strengelbach wohnte. Später zog ich nach Zofingen zurück. Dann wurde der Locher Urs Stadtammann und ihn kannte ich relativ gut wegen der Schule. Er wusste, dass ich so ein bisschen das Flair für Stadtführungen hätte. Er sagte mir, er wäre letztens bei einer Stadtführung dabei gewesen und etwas trockeneres und langweiligeres könne man sich nicht vorstellen. Es ist halt wie mit einem Publikum: Die sind nicht für mich da, sondern ich für sie. Oft ist es ja so, dass zum Beispiel Firmen nach dem Weihnachtsessen noch eine Stadtführung planen und die müssen dann gehen, oder? Diese armen «Sieche». Das muss ich als Stadtführer merken und ihnen keine Führung geben mit was weiss ich für geschichtlichem und architektonischem Hintergrund, sondern eine unterhaltsame, interessante Führung mit guten Geschichten machen. So habe ich mir über die Jahre ein Repertoire für diese Stadtführungen angelegt, das ist vermutlich unvergleichlich. Weil es irgendwie langweilig war, immer nur eine Stadtführung zu machen, kam dann noch die Nachtwächterführung hinzu. Vor drei Jahren habe ich auch noch mit den Henkerführungen angefangen. Dort grabe ich die alten Kriminalfälle in der Stadt aus und das schlägt ein wie eine Bombe.
Was war denn Ihr Höhepunkt als Stadtführer?
Der allerhöchste Höhepunkt war vor gut einem Monat. Da machte ich eine Nachtwächterführung für Blinde. Zunächst war natürlich alles skeptisch, ich am meisten. Ich habe mir gedacht: «Was mach ich da in der Stadt drinnen?» Drei Nachmittage ging ich in die Stadt, um mir zu überlegen, wie ich eine eineinhalbstündige Führung machen kann. Ich suchte mir dann Objekte aus, die die Blinden anfassen konnten. Ich nahm sogar ein paar Objekte in der Hosentasche mit, unter anderem auch ein Siegel, das sie spüren durften.
Was haben Sie sonst noch verrücktes auf diesen Führungen erlebt?
Einmal hat sich jemand ganz alleine angemeldet, der eine Stadtführung bei mir wollte. Er zahlte sogar den vollen Betrag einer Gruppe. Am Schluss machten wir zusammen eine 3-stündige Stadtführung, anstatt eine eineinhalbstündige. Der hatte natürlich Fragen und es wurde einfach ein super-interessantes Gespräch. Und letztes Jahr bin ich in einem Krimi von Susanne Gantner erschienen, «Mit spitzer Nadel». In diesem Buch mache ich eine Henkerführung in Zofingen. Ich heisse dort Urs Pfister, aber es ist dann hinten erklärt. Und diese Autorin kam wirklich mit. Diese Henkerführung war vor über einem Jahr. Ich bekam dann ein Packet mit dem Buch und einem Dankeschön darin. Ich hatte wahnsinnig Freude daran.
Was ist für Sie in Zofingen das spannendste, das man sehen kann? Können Sie das überhaupt so sagen?
Eigentlich kann man das nicht so sagen. Für mich gibt es in dieser Stadt so viele Angelpunkte, an die man anhängen kann. Der geschichtliche Hintergrund ist genial-interessant und es hat sehr viele gute Gebäude in der Stadt, auch architektonisch. Es gibt einfach ein paar Ecken in dieser Stadt, die aussergewöhnlich sind und die die Zofinger noch nicht mal kennen. Das Interessanteste für mich ist der Folter- und Streckturm in Richtung Bahnhof, den kann ich aber leider nicht zeigen, denn er ist privat. Die Geschichte dieses Turms habe ich bis ins letzte Detail recherchiert. Der frühere Bierbrauer Senn hat als Bube geträumt, er wolle später in diesem Turm leben. Er hat sich dort oben ein Wohnzimmer eingerichtet im gotischen Stil. Das Zimmer war sehr klein, aber er hat sich von den grössten Künstlern Möbel machen lassen, die hinein passen. Er ist übrigens auch dort oben gestorben. Aber ich weiche ab… Was ist besonders an dieser Stadt? Das Flair, das sie hat. Aber leider hat sich viel verändert, vor allem, wenn ich die Beizenlandschaft betrachte und das tut mir auch weh. Früher da kannte man einander in den Beizen, da kam ein 70-Jähriger und hat mit mir als 15-, 16-Jähriger das Du angeboten, so «Ich bin der so und so und wenn du mal, dann…», aber das gibt es heute nicht mehr.
Im Museum und bei den Stadtführungen sind sie selber noch recht involviert. Sehen Sie ein Ende?
Im Moment noch überhaupt nicht. Trotz meinem hohen Alter lebe ich mit einer recht guten Gesundheit und solange ich das habe und vor allem solange ich nicht merke, dass mein Hirn nachlässt, höre ich nicht auf. Ich hoffe, ich kann meine Filmarbeit hier im Museum zu Ende bringen, das ist mir ein Anliegen. Dafür rechne ich noch vier, fünf Jahre. Danach will ich es weitergeben können, aber im Moment hängt das Ganze noch zu fest von meiner Person ab. Wir wollen die Filme teilweise bewusst vertonen, sodass die Inhalte erklärt sind. Das ist nicht überall notwendig. Ein Kinderfest zum Beispiel muss man nicht erklären, aber da ist hin und wieder eine Einblendung nötig, die eine Person beschreibt. Bei der Elektrifizierung der Nationalbahn Richtung Küngoldingen 1946 zum Beispiel ist aber ein Erklärungsbedarf da und das will ich unbedingt noch machen können.
Apropos Vergangenheit… Wenn Sie die Gelegenheit hätten an irgendeinen Ort zu irgendeiner Zeit zu reisen, wo würden Sie hin?
Griechenland, und zwar einiges vor Christus. Am liebsten in der Minoischen Zeit. Die Minoer gingen 1500 vor Christus unter. Das war eine absolute Hochkultur. Beim Ausbruch des Vulkans Thera, das ist die heutige Insel Santorin, wurde alles im Mittelmeerraum zerstört. Die andere Zeit, in die ich gerne reisen würde, ist 500, 600 vor Christus, Pythagorion, ebenfalls Griechenland. Der Ort befindet sich auf der Insel Samos, dort lebte der Herr Pythagoras. Das war für mich ein phänomenaler Künstler. Er war Mathematiker und sehr religiös, war Philosoph. Das ist für mich auch ein Hobby geworden, das Leben dieses Mannes so gut es geht zu rekonstruieren und deswegen gehe ich immer wieder nach Griechenland, ich muss Pythagoras jeweils wieder «Grüezi» sagen gehen. Es gibt ein wunderschönes Denkmal von ihm.
Für Sie ist Pythagoras also die eine Person, mit der Sie gerne mal einen Kaffee trinken würden?
Ja, also ich glaube, mit ihm würde ich eher einen Wein trinken. (lacht)
Dann gibt es auch noch die Scholl-Filme, die dank Ihnen digitalisiert wurden.
Genau, ja. Mittlerweile sind es etwa 1400 Filme, es fehlen noch ca. 160, die noch nicht digitalisiert sind. Ich muss das immer nach Geld machen. Das erstaunliche an diesen Filmen ist halt, dass der Scholl ein bisschen alles gefilmt hat. Im neuen Jahr fange ich jetzt wieder an mit «Zofingen vor 80 Jahren», «Zofingen von 70 Jahren» und so weiter. Das geht jeweils eine Stunde. Pro Woche gibt es vier Vorstellungen. Zwei am Mittwoch, zwei am Donnerstag. Da habe ich eigentlich immer 30, 40, 50 Leute pro Vorstellung. Die müssen nichts zahlen, aber sie müssen mir etwas spenden, damit können wir dann wieder Filme digitalisieren.
Wie lange machen Sie das schon?
Ich mache das jetzt doch schon seit 15 Jahren. Das kam dann nach den Stadtführungen. Wiederum der Stadtammann Locher war es, der mich darauf ansprach. Ich habe das Museum übernommen und bin dann im Keller auf die Scholl-Filme gestossen. Scholl filmte jedes Kinderfest, ging auf Kadettenmärsche und Schulreisen mit und was ist heute das Ergebnis? Klassenzusammenkunft. Die 80-Jährigen können zusammenhocken und sehen, wie sie als «Goofli» am Kinderfest waren. (lacht) Dann hatten wir noch den General Guisan, der 1960 verstarb, von dem war ja alles Fan. In jeder Beiz hing ein Bild von ihm. Scholl ging auf Lausanne an die Beerdigung, ein Staatsbegräbnis und filmte die ganze Beerdigung in Farbe. Das Fernsehen hat die Beerdigung 1960 direkt übertragen. Man konnte aber noch nicht aufzeichnen. Als die Beerdigung vorbei war, blieb dem Fernsehen nichts. Als das Fernsehen 2010 zum 50. Gedenktag einen Beitrag machte, lieferte das Museum Zofingen die Bilder dazu. Da konnten wir uns einen Namen machen, wir sind gefragt und die Leute schätzen es.
Können Sie denn mit richtigen Kinofilmen gar nichts anfangen?
Doch, doch, ich bin ein Kinogänger. Das müssen aber nicht unbedingt die neusten Filme sein, ich bin kein Actionfilm-Fan. Wo ich dafür ausflippe, das sind – jetzt bitte nicht lachen – die alten Disney-Filme. 1937, Schneewittchen, oder? Einer der absolut schönsten Trickfilme, zwar extrem kitschig, aber einfach schön. Mein allerliebster Film ist Fantasia. Da ist Musik in Bilder umgesetzt und das finde ich grandios. Ich kann diesen Film im Jahr zweimal sehen und habe trotzdem immer noch Freude dran. Der schönste Spielfilm ist für mich aber Casablanca.
Weshalb gerade dieser?
Nicht nur wegen Ingrid Bergman (lacht). Der Film war ja ein absoluter C-Streifen, während der Kriegszeit aufgenommen, das war billigste Produktion, ausschliesslich als Motivationsfilm für die Soldaten gedacht. Aber der wurde dann zu einem absoluten Kultfilm. «Schau mir in die Augen, Kleines.» (lacht)
Sie haben und hatten in extrem vielen Bereichen zu tun. Würden Sie sich selber als Tausendsassa bezeichnen?
Nein, das bin ich nie, wirklich nicht. Ich bin ein polyvalenter Mensch, der sich auf vielen Gebieten wohlfühlt, viele Interessen hat, aber – und das ist halt so – je breiter dieses Interessen-Spektrum ist, desto oberflächlicher wird es. Deswegen behalte ich ein paar Bereiche für mich, so wie mein Griechenland. Das geht die anderen gar nichts an.