Mein Leben ist ein Musikvideo

Warum ich manchmal schlecht gelaunt in den Tag starte? Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Möglicherweise, weil mein Wecker ein feines Gespür entwickelt hat, wann meine Träume gerade am schönsten sind. Da steig ich doch gerade aus dem Flugzeug auf Bali, aber anstatt Meeresrauschen höre ich dieses verhasste Lied, das ich mal mochte, aber mir jetzt zum Hals raushängt. Ein zweiter möglicher Grund: Oft versuche ich, nochmals einzuschlafen, um den Traum weiterzuträumen. Das resultiert darin, dass ich eine halbe Stunde später erschrocken aufwache und innert fünf Minuten aus dem Haus muss. Mein obligates Frühstück bleibt auf der Strecke. Fazit: Morgen misslungen!

Eine Hundert-Prozent-Garantie für einen schlechten Start in den Tag besteht aber, wenn ich mein wichtigstes Accessoire überhaupt vergesse: meine Kopfhörer. Mein Heiligtum. Sie transferieren mich in eine andere Welt. Dann ist es auch gar nicht mehr so schlimm, dass ich nicht auf Bali erwacht bin.

Über die Treppe laufe ich also in die Unterführung des Bahnhofs Lenzburg, fasse in die Jackentasche und greife nach den Kabeln. Sobald ich den passenden Soundtrack zu meinem aktuellen Gemütszustand gefunden habe und der zweite Hörer im Ohr steckt, befinde ich mich nicht mehr in der Kleinstadt im mittleren Aargau, sondern 750 Kilometer nordwestlich in der englischen Metropole London, wo ich auf der Rolltreppe nach unten in die Tiefen des U-Bahn-Netzes gelange. In der nächsten Szene rauschen Felder, Einfamilienhäuser und Industriegebäude an mir vorbei, währenddem ich mir Bon Jovis «I Ain’t Gonna Live Forever» wieder mal zu Gemüte führe. Da hat er so recht! Nur blöd, sitze ich gerade im Zug zur Arbeit.

Die absolute musikalische Befriedigung hole ich mir dann, wenn der Refrain exakt zum Zeitpunkt beginnt, während der Zug auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigt. Dann kann mich nur noch etwas aus den Tagträumen zurückholen: «Ist da noch frei?»