Zu wenig Sozialhilfe: Erst 220 Flüchtlinge haben eine Nachzahlung beantragt – macht der Aargau zu wenig?

Jahrelang hat der Kanton Aargau anerkannten oder vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen in Asylunterkünften zu wenig Sozialhilfe bezahlt. Inzwischen hat der Regierungsrat die widerrechtliche Praxis korrigiert. Betroffene, die in der Zeit zwischen 1. Oktober 2015 und 30. September 2020 in einer Asylunterkunft gelebt haben, könnten eine Nachzahlung der ihnen zustehenden Sozialhilfegelder beantragen.

Anfang Oktober hat der Kanton auf seiner Website Merkblätter in zwölf Sprachen und das Gesuchsformular aufgeschaltet. Laut Stefan Ziegler, dem Leiter des Kantonalen Sozialdienstes, waren im relevanten Zeitraum 1800 anerkannte oder vorläufig aufgenommene Flüchtlinge von der widerrechtlichen Praxis betroffen. Sie alle hätten Anspruch auf eine Nachzahlung der Sozialhilfe. Sollten alle Betroffenen ihre Ansprüche geltend machen, geht Ziegler von Gesamtkosten von 1,3 Millionen Franken für den Kanton aus.

Doch dazu dürfte es kaum kommen: Bis zum 25. Oktober 2021 habe der Kantonale Sozialdienst 98 Gesuche um Nachzahlung der Sozialhilfe erhalten, teilt das Departement Gesundheit und Soziales auf Anfrage mit. «Von diesen Gesuchen erfüllen voraussichtlich 87 Gesuche die Voraussetzungen der Nachzahlungen.» Die Gesuche betreffen ungefähr 220 Personen.

Fabienne Notter, Geschäftsleiterin der Caritas Aargau, ist nicht erstaunt, dass erst so wenige Gesuche eingereicht wurden. Sie macht den Kanton dafür mitverantwortlich. Er habe es verpasst, die Betroffenen persönlich zu informieren. «Es genügt nicht, die Informationen auf der Startseite des Kantons zu publizieren oder über die sozialen Medien und die Medien zu verbreiten.»

Es sei auch nicht die Aufgabe der Caritas Aargau oder von anderen Organisationen, die Betroffenen aufzuklären und die Fehler des Kantons auszubügeln. «Wir wissen gar nicht, wer von unseren Klientinnen und Klienten betroffen war – es käme einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich», sagt Notter

Kantonaler Sozialdienst: Noch zu früh für ein Fazit

Der Kantonale Sozialdienst hingegen hätte laut Notter die Möglichkeit, die 1800 Betroffenen anzuschreiben. Er tut es aber nicht. Für die Caritas-Aargau-Geschäftsleiterin wirkt es deshalb so, als würde der Kanton darauf hoffen, dass sich möglichst wenige der Betroffenen melden.

Stefan Ziegler sagte Ende September zur AZ, er gehe davon aus, «dass die Verbreitung über die Medien, die NGO und Mund-zu-Mund-Propaganda genügen wird». Nun sagt er, es sei nach kaum einem Monat noch zu früh für ein Fazit betreffend der eingegangenen Gesuche. Er sagt: «Der Kantonale Sozialdienst wird den Eingang der Gesuche beobachten und die Situation nach zwei bis drei Monaten noch einmal analysieren.»

Für Fabienne Notter hingegen war von Anfang an klar, dass man auf diesen Kanälen nur einen Bruchteil der Betroffenen erreichen wird. Das Netzwerk Sozialer Aargau habe deshalb bereits im Vorfeld verlangt, dass alle Betroffenen angeschrieben werden – und zwar mit Merkblättern in ihrer Sprache.

Den Mitarbeitenden beim Kantonalen Sozialdienst will Notter keinen Vorwurf machen. «Wir hatten einen guten Austausch, konnten unsere Ideen und Forderungen einbringen und fühlten uns auch gehört», sagt sie. «Aber es wahr wohl ein politischer Entscheid. Der Regierungsrat hat am Schluss keine der für uns relevanten Punkte aufgenommen.»

Nachzahlung erhöht Sozialhilfeschulden

Für Notter stellt sich auch die Frage, was die Nachzahlung den Betroffenen überhaupt bringt. Es ist zwar Geld, das ihnen zusteht, gleichzeitig erhöhen sich bei einer Nachzahlung aber die Sozialhilfeschulden. «Es ist schwer zu sagen, für wie viele Personen es sich vor diesem Hintergrund lohnt, ein Gesuch einzureichen.»

Trotzdem findet Notter gehe es um Geld, das den Betroffenen vorenthalten wurde. «Wenn man dann feststellt, dass ihnen eine Nachzahlung nichts mehr bringt und nur ihre Schulden erhöht, hätte man das gesparte Geld ja auch in Integrationsprojekte oder in die Verbesserung der Infrastruktur in Asylunterkünften stecken können.» Auch das habe das Netzwerk Sozialer Aargau dem Kanton vorgeschlagen – erfolglos.

Auf die Frage aus einem Vorstoss der SP-Fraktion wohin denn das durch die tieferen Ansätze gesparte Geld geflossen sei und wie es verwendet wurde, verwies der Regierungsrat auf das Defizit in den Jahresrechnungen. Die Globalpauschalen des Bundes würden lediglich einen Teil der Gesamtkosten im Asyl- und Flüchtlingsbereich decken. Der Regierungsrat schreibt: «Hätte das Departement Gesundheit und Soziales die Unterstützungsansätze bereits früher angehoben, so hätte sich der Aufwandüberschuss in den Vorjahren entsprechend erhöht.»