Alain Berset zur Zertifikatspflicht: «Die Frage einer Aufhebung stellt sich»

Abstimmung vom 28. November: Darum geht es beim Covid-Gesetz

Beim Referendum gegen das Covid-19-Gesetz stimmen wir über Beschlüsse des Parlaments vom März 2020 ab. Am meisten zu reden gibt die gesetzliche Grundlage für das Covid-Zertifikat. Gestützt auf den entsprechenden Artikel hat der Bundesrat Mitte September angesichts steigender Fallzahlen die erweiterte Zertifikatspflicht für Restaurants, Bars, Museen oder Fitnessstudios eingeführt. Das Covid-19-Gesetz schafft darüber hinaus gesetzliche Grundlagen für ein landesweit koordiniertes Contact-Tracing, Ausnahmen von der Quarantäne und die Herstellung und Beschaffung von Covid-Medikamenten. Auch eine Reihe von wirtschaftlichen Massnahmen sind Teil der Abstimmungsvorlage, wie etwa die Ausweitung der Corona-Härtefallhilfen für Unternehmen, des Erwerbsersatzes für Selbstständigerwerbende oder der Kurzarbeitsentschädigung. Ebenfalls im Gesetz geregelt sind Entschädigungen für abgesagte Publikumsanlässe, Kredite für Profisportvereine oder Finanzhilfen für Kindertagesstätten und Kulturinstitutionen. Das gemäss Verfassung für dringlich erklärte Gesetz und bliebe auch im Falle einer Ablehnung bis März 2022 in Kraft. Die bereits im Juni 2021 vom Volk angenommenen Artikel des Covid-19-Gesetzes bleiben sowieso in Kraft.

Die Zahl der Neuinfektionen steigt wieder an. Wie gross ist Ihre Sorge vor einer fünften Welle?

Alain Berset: Das Auf und Ab der Infektionszahlen gehört zu einer Pandemie. Entscheidend ist, dass wir die Kontrolle nicht verlieren. Sowohl im Frühjahr nach der Lockerung der Massnahmen als auch nach den Sommerferien sind die Zahlen angestiegen, ohne dass uns die Kontrolle entglitten ist.

Eine hohe Impfquote hilft dabei, die Kontrolle zu behalten. Weshalb ist dieser Wert in der Schweiz so viel schlechter als in anderen europäischen Ländern?

Hätten wir Anfang des Jahres gewusst, dass im Oktober 71 Prozent derjenigen, die sich überhaupt impfen lassen können, vollständig geimpft sind, wären wir glücklich gewesen. Aufgrund der ansteckenderen Delta-Variante reicht dieser Wert jedoch nicht mehr aus, um eine Überlastung des Gesundheitswesens ausschliessen zu können. Aber es stimmt, im Vergleich zu anderen Ländern sieht die Impfquote in der Schweiz nicht gut aus.

Was ist Ihre Erklärung dafür?

Es gibt verschiedene Gründe. Bei der Abstimmungskampagne zum Epidemiengesetz 2013 habe ich erlebt, wie umstritten das Thema Impfen in Teilen der Bevölkerung ist. Das hat sicher kulturelle Gründe. Auch in unseren deutschsprachigen Nachbarländern Deutschland und Österreich ist die Impfskepsis verbreitet und die Impfquote auf einem ähnlichen Niveau. In Portugal hingegen sind 86 Prozent der Bevölkerung gegen Corona geimpft. Ich habe gelesen, die Impfbereitschaft sei deswegen so hoch, weil das Land bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Polio-Erkrankungen erlebt hat. Diese Erfahrung ist in Portugal bis heute prägend.

Der Bundesrat bläst zur 93 Millionen Franken teuren Impfoffensive. Seien wir ehrlich: Wer sich jetzt noch nicht hat impfen lassen, der wird es kaum mehr tun.

Was ist die Alternative? Mit den Schultern zucken und nichts tun? Das ist keine Option, und dies sehen auch die Kantone so. Wir müssen noch einmal alles versuchen. Es werden sowieso alle mit dem Virus in Kontakt kommen. Die Frage ist einzig und alleine, wie die Immunisierung erfolgt: Per Impfung in einer kontrollierten, sicheren Weise oder per Infektion mit all den Risiken, die eine schwere Erkrankung mit sich bringt?

Bund und Kantone diskutieren seit Monaten, wie die Impfquote erhöht werden kann. Fehlte es bislang wirklich am Geld oder nicht eher an den Ideen?

Natürlich haben wir uns schon länger miteinander über Ideen ausgetauscht. Aber die Kantone haben noch nicht alle Ideen bis zur letzten Konsequenz in der Praxis umgesetzt.

Zum Beispiel?

Ich bin überzeugt, dass wir mit dem verstärkten Einsatz von mobilen Impfzentren inklusive persönlicher Beratung noch mehr Leute von einer Impfung überzeugen werden. Gerade in kleineren Orten, abseits der grossen Zentren.

Viele Kantone befürchten, der Personalmangel werden zum Hindernis für die Umsetzung der Impfoffensive. Zu Recht?

Ich habe grosses Verständnis für die schwierige Personalsituation im Gesundheitswesen. Bei den mobilen Impfzentren braucht es eine Ärztin oder einen Arzt vor Ort, für den sehr seltenen Fall, dass Komplikationen auftreten. Viele pensionierte Medizinerinnen und Mediziner sind bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Für die restlichen Aufgaben, die in einem Impfbus anfallen, gibt es Zehntausende ausreichend qualifizierte Fachkräfte. Es muss möglich sein, für die Dauer der Impfoffensive genügend Personal zu finden. Bei der Impfoffensive sind alle gefordert und nicht bloss die Behörden: So können etwa Kirchen oder Vereine Informationsveranstaltungen organisieren. Es braucht öffentliches Einstehen und Engagement für die Impfung, damit wir zusammen gut durch den Winter kommen.

Sie sagten, mit einer Impfquote von 80 Prozent bei den 18- bis 64-Jährigen und 93 Prozent bei den über 65-Jährigen könnten die Massnahmen weitgehend aufgehoben werden. Wenn diese Werte nicht erreicht werden: Bleiben die Massnahmen dann für immer in Kraft?

Auf keinen Fall. Genau deshalb hat der Bundesrat auch kein Impfziel definiert. Ein solches Szenario würde bedeuten, dass sich eine grosse Anzahl von Leuten implizit oder explizit dafür entschieden hat, durch eine Ansteckung in Kontakt mit dem Virus zu kommen. Beim Impfen werden wir nach der Impfoffensive einen Plafond erreichen. Gleichzeitig stecken sich täglich Personen mit dem Virus an. Das ist zwar im Vergleich zur Impfung viel gefährlicher. Aber auch diese Ansteckungen erhöhen die Quote der immunisierten Personen.

Und wenn diese Neuansteckungen die Spitäler erneut überlasten?

Die Risikogruppen sind heute recht gut geschützt. Im Kanton Schaffhausen etwa sind über 93 Prozent der über 65-Jährigen mindestens einmal geimpft. In allen Altersgruppen über 50 Jahren sind schweizweit mindestens 75 Prozent vollständig geimpft. Doch ist die Impfquote noch zu tief, um jetzt am Beginn der kalten Jahreszeit zu lockern. Aber je mehr wir impfen und je mehr Leute sich parallel dazu anstecken, desto schneller können wir zum normalen Alltag übergehen. Wir wollen verhindern, dass die Spitalbelastung so steigt, dass der Bundesrat wieder harte Massnahmen beschliessen muss.

Der Bundesrat legt kein konkretes Impfziel fest. Was sagen Sie zu den lauter werdenden Forderungen nach einem klaren Ausstiegsszenario?

Solche Forderungen sind ein Dauerbrenner dieser Krise. Die Leute wollen Sicherheit, Gewissheit, Klarheit. Aber das zentrale Merkmal einer Pandemie ist Unvorhersehbarkeit. Wir haben schon versucht, mit Kriterien zu arbeiten: Sie waren jeweils sehr schnell überholt.

Wir befinden uns in der Normalisierungsphase, einziges Kriterium für Massnahmen ist die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitswesens. Sie besteht derzeit nicht. Warum halten Sie an der Zertifikatspflicht fest?

Der Bundesrat hat die Zertifikatspflicht Mitte September ausgedehnt, als sich die Fallzahlen trotz warmer Temperaturen alle acht Tage verdoppelt haben. Unterdessen hat sich die Situation beruhigt. Die Frage einer Aufhebung stellt sich. Doch die Herbstferien sind noch nicht überall vorbei, es wird kälter, und der Trend bei den Ansteckungen hat sich gekehrt. Nicht nur bei uns. Damit werden auch die Spitaleintritte zunehmen.

Deshalb ist es jetzt zu früh für eine Flucht nach vorne.

Aber wir prüfen die erweiterte Zertifikatspflicht Mitte November wieder. Der Bundesrat wird sofort lockern, sobald das Risiko vertretbar ist – bei den Grossanlässen dürfte die Zertifikatspflicht hingegen noch länger nötig bleiben.

Auch linke Kreise kritisieren das Covid-Zertifikat unterdessen als unverhältnismässige Einschränkung der Grundrechte. Zu Recht?

Wir dürfen nicht vergessen, dass im letzten Winter Restaurants, Bars, Kinos, Theater, Fitnesscenter während Monaten geschlossen waren – und zwar für alle. Damals waren die Möglichkeiten viel stärker eingeschränkt als heute. Jetzt ist alles offen. Einzige Zutrittsbedingung ist der Nachweis per Zertifikat, dass man ein geringes Übertragungsrisiko aufweist. Dafür reicht es geimpft, genesen oder negativ getestet zu sein. Mit der Testmöglichkeit ist der Zutritt auch Personen möglich, die sich nicht impfen lassen wollen.

Mit dem Ende der Gratistests hat der Bundesrat die Grundrechtsproblematik nochmals massiv verschärft. Die Teilnahme am sozialen Leben wird zur Geldfrage. Studierende brauchen ein Zertifikat, der Zugang zur Bildung wird eingeschränkt.

Das war kein einfacher Entscheid für den Bundesrat. Doch langfristig lässt es sich nicht rechtfertigen, dass die Steuerzahler die Tests bezahlen müssen. Man darf aber nicht vergessen, was der Bundesrat in diesem Zusammenhang auch noch entschieden hat: Er übernimmt weiterhin die Kosten für repetitive Tests in Firmen, Schulen oder auch Universitäten, und mit diesen Testergebnissen bekommt man ein Zertifikat. Mit dem Ende der Gratistests sind zudem die Kosten für Tests gesunken, dank innovativer Lösungen.

Genesene sollen leichter zu einem Covid-Zertifikat kommen. Ein Versuch, die Abstimmung über das Covid-Gesetz zu gewinnen?

Nein. Unser Handeln wird durch den Verlauf der Pandemie bestimmt, nicht durch Abstimmungstermine.

Die Leitplanke ist seit Beginn der Pandemie die Verhältnismässigkeit.

Eine Aufhebung der Zertifikatspflicht liegt zwar noch nicht drin, aber Erleichterungen für Genesene sind möglich und verhältnismässig. Es gibt Menschen, die Antikörper haben, aber keinen PCR-Test vorweisen können und sich nicht impfen lassen, was empfohlen wäre. Jetzt, wo wir genügend gute serologische Tests haben, ist es nur logisch, dass wir diesen Personen den Zugang zum Zertifikat ermöglichen.

Der Bundesrat warnt, bei einem Nein zum Gesetz würden Auslandsreisen ab dem 19. März 2022 praktisch  verunmöglicht. Das ist doch Panikmache.

Vergessen wir nicht: Bei einer Ablehnung würden alle vom Parlament im März 2021 beschlossenen Anpassungen des Covid-Gesetzes wegfallen. Davon betroffen wäre nicht nur das Zertifikat. Auch Hilfsleistungen für Selbstständigerwerbende, Angestellte, Unternehmen, für Kultur, Sport oder Kitas und Regelungen wie die Befreiung von Geimpften von der Quarantänepflicht wären betroffen. Und auch für das Zertifikatssystem würde uns ab nächstem Frühling die gesetzliche Grundlage fehlen. Das heisst nicht, dass Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr ins Ausland reisen können. Doch es wird deutlich komplizierter, weil sie nicht mehr mit dem Zertifikat reisen können oder Einschränkungen im Reiseland in Kauf nehmen müssten.

 

Selbst die Gegner wollen die Grundlage für ein Auslandzertifikat schaffen. Es geht ihnen nur um den Einsatz im Inland.

Wenn das Volk Nein sagt zum Gesetz, sagt es auch Nein zum Zertifikat. Es wäre seltsam, in dieser Situation zu sagen, das Nein galt nur für das Zertifikat im Inland. Selbst wenn es den politischen Willen gäbe, eine gesetzliche Grundlage für ein Auslandszertifikat zu schaffen, wird dies nicht schnell passieren. Nach einem Volks-Nein kann man nicht nochmals ein dringliches Gesetz beschliessen. Ein ordentlicher Prozess wäre notwendig – alleine die Vernehmlassung würde drei Monate dauern.

Was ist der Plan B bei einem Nein? Hofft der Bundesrat einfach, dass es im März 2022, wenn das Gesetz ausser Kraft treten würde, ohnehin kein Zertifikat mehr braucht?

Prognosen sind besonders in einer Krise schwierig. Es könnten etwa neue Varianten auftreten. Das Virus wird in weiten Teilen der Welt noch lange im grösseren Umfang zirkulieren, weil sie noch weniger geimpft haben. Deshalb braucht es wohl für internationale Reisen noch länger ein Zertifikat. Im Inland werden wir deutlich früher kein Zertifikat mehr brauchen. Wir alle hoffen, dass dies in absehbarer Zeit im nächsten Jahr ist.

Corona prägt auch die Debatte um die Pflege-Initiative. Gemäss Umfragen liegt die Zustimmung bei fast 80 Prozent. Der Bundesrat steht mit seinem Nein ziemlich alleine da. Hat der Bundesrat die Probleme in der Pflege verkannt?

Es gibt ja nicht nur die Initiative: Das Parlament hat einen Gegenvorschlag verabschiedet, der aber nur bei einer Ablehnung der Initiative in Kraft tritt. Ich habe noch nie einen derart starken Gegenvorschlag gesehen, der fast sämtliche Elemente einer Initiative berücksichtigt: mehr Flexibilität für Pflegekräfte, die direkte Abrechnung mit den Krankenkassen, eine Milliarde Franken für die Ausbildung. Das ist sehr viel Geld. Zum Vergleich: Die Hausärzte wurden als Folge ihrer Initiative «Ja zur Hausarztmedizin» ‹nur› mit 300 Millionen Franken bessergestellt.

 

Die Hälfte der Ausbildungskosten von einer Milliarde Franken müssen die Kantone tragen, und diese Gelder müssen sie erst noch beschliessen: Es gibt keine Garantie, dass die Kantone diesem Versprechen nachkommen werden.

Die Kantone haben ein grosses Interesse an diesem Geld aus Bern, um die Situation in der Pflege zu verbessern. Denn sie sind verantwortlich für die Versorgung. Die Kantone haben zugesichert, dass sie ihren Teil der Gelder organisieren.

Der Gegenvorschlag setzt bei der Ausbildung an. Den chronisch überlasteten Pflegenden, die heute im Beruf tätig sind, bringt er nichts.

Stimmt, die Arbeitsbedingungen sind nicht Teil des Gegenvorschlages. Aber wenn mehr Pflegende ausgebildet werden, entlastet das die Tätigen. Es hat sich bewährt, die Arbeitsbedingungen vor Ort und situationsgerecht zu regeln. Die Spitäler und Heime sind im Besitz der Kantone, von Gemeinden oder Privaten. Bisher haben jeweils die direkt Betroffenen zusammen die Arbeitsbedingungen festgelegt.

Wird die Initiative angenommen, bliebe dem Bund nichts anderes übrig: Er müsste die Arbeitsbedingungen festlegen.

Natürlich würden wir die Initiative umsetzen. Die Regelung der Arbeitsbedingungen fällt auch bei Annahme der Initiative nicht hauptsächlich in den Kompetenzbereich des Bundes. Dieser Gegenvorschlag ist stark von der Pandemie geprägt. Die wichtigsten Entscheide fällte das Parlament in der ersten Welle, vielleicht geht der Gegenvorschlag auch deshalb sehr weit. Wäre das Parlament nach dem Scheitern des Gegenvorschlages, allenfalls in neuer Zusammensetzung nach den Wahlen, noch gleich grosszügig?

Das Parlament könnte bei einem Ja zur Initiative kaum eine Umsetzung beschliessen, die hinter den Gegenvorschlag zurückgeht. Das wäre eine grobe Missachtung des Volkswillens.

Das kann man so sehen, und ich würde das auch nicht wollen. Bund, Kantone und Sozialpartner müssten sich bei der Umsetzung der Arbeitsbedingungen abstimmen. Das Risiko, dass die Umsetzung der Initiative lange dauern würde, ist gross und wird häufig unterschätzt. Verbessert sich bei einem Ja die Situation des Pflegepersonals am nächsten Tag? Nein! Mit dem Gegenvorschlag hingegen kann die Ausbildungsoffensive recht rasch gestartet werden, wie auch das selbstständige Abrechnen.

Darum geht es bei der Pflege-Initiative

Die Pflege-Initiative verlangt vom Bund dafür zu sorgen, dass ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal ausgebildet wird und zur Verfügung steht. Das Pflegepersonal soll berufliche Entwicklungsmöglichkeiten sowie angemessene Arbeitsbedingungen und Löhne erhalten. Das Parlament hat einen indirekten Gegenvorschlag beschlossen, der nur bei einem Nein zur Initiative in Kraft tritt. Gemäss diesem sollen Bund und Kantone eine Milliarde Franken für eine Ausbildungsoffensive im Pflegebereich investieren. Der Vorschlag kommt der Initiative bei der direkten Abrechnung von Pflegeleistungen bei den Krankenkassen entgegen. Er sieht aber von neuen Regeln bei den Arbeitsbedingungen oder den Löhnen ab. (cbe)