
Ambulante Pflege gerät zunehmend unter Druck: Spitex bekommt weniger Beiträge
Wie lässt sich die Pflege in Zukunft finanzieren?
Die Pflege ist ein wichtiger Pfeiler der hiesigen Gesundheitsversorgung. Die Branche kämpft derzeit nicht nur mit einem Fachkräftemangel, der sich angesichts der alternden Bevölkerung noch zuspitzt. Auch die Kosten geben Grund zur Sorge – gerade auch vor dem Hintergrund, dass der Beruf eine finanzielle Aufwertung geniessen soll. Wie die Pflege in der Schweiz künftig finanziert werden soll, gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen. Heute teilen sich Krankenkassen, die öffentliche Hand und die betroffenen Patienten die Kosten. Weil der Beitrag der Krankenkassen und der Patienten an die Pflegeleistung fix festgelegt ist, muss der Staat die steigenden Mehrkosten übernehmen. Die Kantone verlangen deshalb einen neuen Verteilschlüssel, wogegen sich die Krankenkassen wehren. Bessere Abgeltung privater Care-Arbeit gefordert Gleichzeitig sind im Parlament etliche Forderungen eingegangen, welche die private Care-Arbeit finanziell abgelten wollen. Ziel ist, diese aufzuwerten: Wer sich zu Hause um einen Angehörigen kümmert, muss nicht zwingend auf Erwerbsarbeit verzichten. (wan)
Werner Spörri * wartet im Badezimmer, als Ramona Walser in seiner Wohnung ankommt. Der 78-Jährige sitzt auf dem WC-Deckel, die Kleider hat er bereits ausgezogen. Die Spitex kommt jeden Tag bei Spörri vorbei, um ihm bei der Körperpflege zu helfen, einmal pro Woche wird geduscht. So wie an diesem Dienstagmorgen. Walser hilft Spörri auf die Beine, greift ihm bei den wenigen kleinen Schritten zur Dusche stützend unter die Arme. Dann zieht sie den Vorhang zu, nimmt die Brause in die Hand und dreht das Wasser auf. Seit einer Rückenoperation ist der ehemalige Bauer nicht mehr gut auf den Beinen. Kurze Strecken in der modernen Wohnung in Mels legt er mit Krücken zurück, für längere braucht er einen Rollstuhl.
Früher hat Rita Spörri * ihren Mann selber gepflegt. Doch das ist nicht mehr möglich, seit es auch ihr nicht mehr so gut geht. Darum hilft seit rund einem Jahr die Spitex Sarganserland aus. Rita Spörri und schaut zu ihrem Mann, der mittlerweile wieder angezogen ist und am Stubentisch sitzt, und sagt:
Im Radio läuft Volksmusik, an der Wand baumeln Kuhglocken. Über der Couch hängt ein Luftbild des Bauernhofes, auf dem das Ehepaar während Jahrzehnten gelebt und gearbeitet hatte. Bis sie den Betrieb aus gesundheitlichen Gründen aufgeben und verkaufen mussten. Walser misst Werner Spörris Blutdruck, alles im grünen Bereich.
Heute wird knapp die Hälfte der benötigten Pfleger ausgebildet
Menschen wie Werner Spörri gibt es immer mehr in der Schweiz. Menschen, die nicht mehr ganz selbstständig leben, aber nicht in ein Pflegeheim wollen oder können. Oder Menschen, die aus dem Spital entlassen werden, aber noch Hilfe brauchen.
Gemäss den neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik wurden im Jahr 2017 hierzulande über 350’000 Personen von Spitexorganisationen gepflegt und betreut, was knapp vier Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. 2011 waren es noch 250’000 Personen gewesen. Verantwortlich für den Anstieg ist nicht nur eine alternde Bevölkerung, sondern auch der Grundsatz «ambulant vor stationär»: Patienten werden früher aus dem Spital entlassen, sie können auch nach Knieoperationen oft am selben Tag wieder nach Hause. Gleichzeitig sollen Patienten dank ambulanter Pflege möglichst lange in ihren eigenen vier Wänden leben und den Heimeintritt aufschieben. Denn die ambulante Pflege kostet die Betroffenen, die Krankenkasse und auch den Staat deutlich weniger als die stationäre Pflege in einem Heim.
In diesem System spielen die Spitexorganisationen eine Schlüsselrolle. Die grosse Frage ist nur, ob sie auch künftig genügend Personal finden, um alle diese Menschen zu betreuen. Denn schon heute ist die Situation angespannt. Francesca Heiniger vom nationalen Spitexverband schreibt auf Anfrage:
Das betrifft insbesondere höher qualifizierte Pflegefachpersonen. Denn von ihnen werden hierzulande zu wenige ausgebildet. Gemäss dem nationalen Versorgungsbericht für die Gesundheitsberufe von 2016 werden pro Jahr nur 43 Prozent der benötigten Diplomabschlüsse im Pflegebereich erreicht. Der Bericht geht davon aus, dass der Bedarf an entsprechend ausgebildetem Personal bis 2025 bei rund 17 000 zusätzlichen Fachkräften liegt. Davon benötigen Pflegeheime und Spitex rund 10 000.
Personalmangel kennt auch die Spitex im Sarganserland. Nach rund einer Stunde hat sich Walser von den Spörris verabschiedet und sitzt nun wieder im Auto. Der Zeitplan ist gedrängt, vier Klientinnen und Klienten muss die 38-Jährige an diesem Morgen besuchen. Seit sechs Jahren arbeitet die diplomierte Pflegefachfrau für die Spitex Sarganserland, wo sie mittlerweile auch für die Qualitätssicherung zuständig ist. «Eine Herausforderung sind die grossen Schwankungen», sagt sie. Nicht immer muss die Spitex gleich vielen Menschen helfen. «Das führt dazu, dass wir zeitweise am Anschlag sind und bei Spitexorganisationen in anderen Regionen um Unterstützung bitten müssen, während es wenig später wieder ruhig sein kann und wir alle Minusstunden machen», erzählt Walser.
Pflegefachleute wollen mehr Selbstverantwortung im Beruf
Sie parkiert ihr Auto vor einem Einfamilienhaus. Dort wohnt Samuel Ruckstuhl * zusammen mit seiner Frau. Der 92-jährige ehemalige Lehrer hat einen künstlichen Darmausgang und braucht deswegen die Unterstützung der Spitex. Da ein anderer Spitex-Mitarbeiter am Tag zuvor ausserplanmässig vorbeikommen musste, misst Ramona Walser nur noch Gewicht und Blutdruck. «Wir müssen flexibel sein», sagt sie.
Nach einer Viertelstunde sitzt sie wieder im Auto und fährt zur nächsten Klientin. «Ich bin gespannt, wie es ihr geht», sagt Walser. «Am Wochenende war sie sehr verwirrt, verlor im Gespräch immer wieder den Faden. Ich habe mir Sorgen um sie gemacht.» Doch nun geht es der Frau wieder besser. Walser freut sich und sagt:
Die Frau sieht nicht mehr gut und braucht viele Medikamente, die Walser vorbereitet, bevor sie wieder aufbricht.
Um dem drohenden Personalmangel zu begegnen, kämpft die Branche schon seit längerer Zeit für eine Stärkung der Pflege und für mehr Anerkennung. Daraus ist auch die Pflege-Initiative entstanden, die der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer lanciert hat. Im Moment befindet sich das Volksbegehren im Parlament, ein Gegenvorschlag ist in der Vernehmlassung. Auf diesen setzt auch der nationale Spitexverband, weil die Initiative aus seiner Sicht nicht alle Berufsgattungen berücksichtigt. Ein Kernpunkt bei beiden Vorlagen ist, dass Pflegefachkräfte künftig mehr auf eigene Verantwortung machen sollen. Heute braucht es für fast jeden Handgriff eine Verordnung des Arztes.
Sorgen machen der Spitex nicht nur personelle Probleme, die ambulante Pflege ist auch finanziell unter Druck. Vor der Sommerpause hat der Bundesrat entschieden, die Krankenversicherungsbeiträge der Spitex per Anfang 2020 um 3,6 Prozent zu kürzen. Für Spitex Schweiz ist das ein «inakzeptabler Entscheid», der dem Grundsatz «ambulant vor stationär» widerspreche. Seit Jahren finde eine gewollte Verlagerung von Pflegefällen in die Spitex statt. Genau diese Branche müsse nun Kürzungen der Beiträge der Krankenversicherer tragen. Die Kritik: Der Bund nehme mit seinem Entscheid eine bewusste Schwächung der ambulanten Pflege in Kauf.
Von Fachwissen und sozialen Kompetenzen
«Ich habe manchmal das Gefühl, dass die breite Bevölkerung denkt, dass wir alten Leuten einfach nur bei der Körperpflege helfen», sagt Ramona Walser.
Zumindest ihre Klientinnen und Klienten wüssten das. Das zeigt sich beim letzten Stopp auf Walsers Tour. Dieser führt in die Nähe des Bahnhofs Sargans zu Vreni Schmid *. Sie musste sich ihre linke Brust amputieren lassen. Ramona Walser wechselt nicht nur den Verband, sie muss auch beurteilen, ob die Wunde gut verheilt. Und dann sitzt sie noch ein wenig da und hört Schmid zu, die erzählt, wie schon ihre Geschwister an Krebs erkrankt und gestorben waren. «Ich bin noch die Zäheste von allen», sagt sie und lacht. Die Zeit für einen Schwatz müssen die Pflegerinnen aufbringen. Denn zum Wohlbefinden der Klienten trägt auch der soziale Kontakt bei. Viele von ihnen sind auf sich alleine gestellt – und wissen den Austausch zu schätzen.
Vreni Schmid drückt Ramona Walser zum Abschied ein Glas selbst gemachte Konfitüre in die Hand – als Dankeschön. Sie sei froh, könne sie noch zu Hause leben und müsse nicht ins Heim, sagt Schmid. «Ich will noch ein paar Mal Konfi machen.» * Namen geändert