
Auf Zeitreise durch die Altstadt: So sah Aarau vor 110 Jahren aus
Was muss das für eine Aufregung gewesen sein in der Rathausgasse: Da tanzten farbige Muster und Schriftzüge über Hauswände, da kringelten sich Muster über Fensterbänken und Türrahmen. Und die Aarauer standen da, die Münder aufgesperrt, und staunten.
Urheber dieser Vorführungen: Schirmfabrikant Eduard Müller, ein Stadtoriginal und passionierter Fotograf. In seinem Laden an der Rathausgasse verkaufte Müller nicht nur Schirme, sondern handelte auch mit Nähmaschinen, Hüten, Mützen, Berg- und Wintersportartikeln.
Und wenn er nicht im Laden stand oder mit seiner Kamera unterwegs war, schob er in seiner Wohnung im ersten Obergeschoss einen Projektor auf den Fenstersims und liess handbemalte oder animierbare Reklame- oder Kaleidoskop-Dias über die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser flimmern.
Urgrossvaters Erbe entdeckt
Das alles ist rund 120 Jahre her. Und um ein Haar wäre das alles in Vergessenheit geraten, hätte sich nicht ein Zahnarzt nach dem Ende seiner Praxistätigkeit 2006 an den Familienschatz im Estrich erinnert und diesen – bestehend aus rund 185 Trockengelatine-Plattendispositiven auf Glas – genauer unter die Lupe genommen. Sein Name: Martin Kundert (75), Urenkel von besagtem Eduard Müller (1854 bis 1915).
«Meine Grossmutter hat die Glasplatten mitgenommen, als sie damals daheim ausgezogen ist», sagt Martin Kundert. Sie sei es auch gewesen, die dem Vater jeweils helfen musste, Stative und Kamera zu tragen. Und Eduard Müller lief weit für seine Sujets: Er fotografierte nicht nur die Stadt und Region Aarau, sondern auch die wichtigsten Schlösser und Burgen im Kanton. Sein aufwendigstes Projekt: die Dokumentation der Aare von der Quelle bis zur Mündung.
Diese Aare-Dokumentation war es denn auch, die Martin Kundert im Estrich entdeckt hatte, dazu den Projektor, mit dem die Dias auf die Hauswände projiziert worden waren. «Mehr gab es nicht, keine Kamera, keine Aufzeichnungen oder Listen zu den Aufnahmen», sagt Kundert.
Also suchte er. Hartnäckig. Verteilt auf verschiedene Schweizer Museen fand er weitere Aufnahmen, er durchkämmte Archive und Bibliotheken, suchte erst mit Satellitenbildern, dann zu Fuss jeden einzelnen Standpunkt seines Urgrossvaters und machte die Bilder ein zweites Mal – mit 110 Jahren Zeitdifferenz.
Dafür stakste Kundert durch Unterholz, stieg auf Balkone und strich durch fremde Gärten, so lange, bis der Ausschnitt genau passte. «An genau demselben Punkt zu stehen und den Sucher auf das genau gleiche Sujet wie mein Urgrossvater zu richten, war ein seltsames Gefühl», sagt Kundert. «Das war erlebte Geschichte.»
Diese Vorher-Nachher-Bilder aus der Aarauer Altstadt kommen jetzt unter dem Titel «Das illustrierte Inventar» ins Museum. am Freitagabend findet im Stadtmuseum Aarau die Vernissage statt. 30 Exkursionstage unternahm der Zürcher Kundert in Aarau, bis er die rund 100 Sujets abfotografiert hatte. Im Gegensatz zu den Aufnahmen der Aare sei es bei diesen Bildern nicht schwierig gewesen, den originalen Standpunkt zu finden, sagt Kundert.