Bankerlegende Oswald Grübel: «Wir gehen in eine Situation, wie wir sie noch nie erlebt haben»

Herr Grübel, wir sitzen hier in Ihrem Zürcher Büro ohne Masken. Haben Sie keine Angst vor dem Virus?

Oswald Grübel: Nein. Ich wahre Abstand und halte die Hygienevorschriften ein. Es ist mir bewusst, dass ich ein Fehlverhalten im schlimmsten Fall mit meinem Leben bezahlen muss. Das sollte die Politik gerade uns älteren Leuten noch deutlicher sagen. Es wäre wirkungsvoller als diese ganze Aufregung um ständig ändernde Regeln, welche die Bürger vor allem verwirren.

Werden Sie sich impfen lassen?

Die Frage kommt zu früh. Ich weiss noch viel zu wenig über diese Impfstoffe. Vor allem nicht wie sie auf ältere Menschen wirken. Ich vermute mal, dass in den bisherigen Testreihen nicht allzu viele 70-jährige oder 80-jährige dabei waren.

Die Pandemie verändert unser Leben. Was macht sie mit Ihnen?

Es ist ruhiger geworden. Die Frage müssten Sie den jungen Leuten stellen. Denen, die einen Job haben und einen solchen noch lange Zeit brauchen werden. Leuten, die Kinder grossziehen und dabei noch am Aufbau ihres eigenen Vermögens arbeiten müssen.

Wir stecken gerade in der grössten Rezession seit dem letzten Weltkrieg. Warum spüren wir so wenig davon?

Weil wir den höchsten Wohlstand aller Zeiten haben. Zum Beispiel gelten viele Menschen, die derzeit nicht mehr arbeiten, noch nicht als arbeitslos, weil sie Unterstützungsleistungen aus verschiedenen staatlichen Kassen erhalten. Aber das kann sich ändern. Die Krise wird in der Arbeitslosenstatistik bald deutlicher sichtbar werden. Allerdings sind die Entwicklungen im Arbeitsmarkt nicht nur eine Folge der pandemiebedingten Rezession.

Sie waren ein Banklehrling in Frankfurt, als es 1967 in Deutschland zur ersten Wirtschaftsrezession nach dem Krieg kam. Erzählen Sie!

Es war natürlich eine Zäsur, weil es, wie Sie sagen, die erste Rezession nach dem Krieg war. Die Arbeitslosenquote verdreifachte sich, aber von einem sehr niedrigen Niveau. Jeder hatte im Rahmen seiner Möglichkeiten finanziell vorgesorgt und die Löhne stiegen immer noch an. Es herrschte überall die Zuversicht, dass sich die Wirtschaft schnell erholen würde. Schliesslich war uns allen klar, dass es noch viel aufzubauen gab.

Diese Zuversicht fehlt jetzt. Haben wir den Zenit des Wohlstandes überschritten?

Wachstum erzeugen vom aktuellen Niveau ist im Vergleich zu den 1960er Jahren sicher viel schwieriger geworden. Ich glaube, grössere Wachstumsschübe sind nur noch durch technologische Erfindungen möglich, die breite Teile der Wirtschaft verändern können. Das Problem ist, dass solche technologischen Umbrüche immer auch viele Arbeitsplätze verlagern. Das ist auch einer der Gründe, weshalb gerade die privaten Sparquoten so stark steigen. In Europa haben sie sich seit Ausbruch der Pandemie verdoppelt. Sparquoten steigen immer dann, wenn Unsicherheit zunimmt.

Zum Glück ist das Geld so billig.

Billig ist es in der Tat. Weltweit sind derzeit Staatsanleihen im Wert von 18 Billionen Dollar ausstehend, die negativ verzinst werden. Ich bezweifle aber, dass das ein Glück ist. In einem solchen Markt ist die Verlockung der Staaten gross, weiter Geld zu borgen. Die Verschuldung ist eines von mehreren grossen, globalen Ungleichgewichten, die seit der Finanzkrise entstanden sind. Viele Staaten wollen oder können sich eine Rezession nicht leisten, deshalb wird das Schuldenmachen noch Jahre so weiter gehen.

Warum können wir uns keine Rezession mehr leisten?

In den staatlichen Budgets sind jährliche Mehreinnahmen fest eingeplant – gezwungenermassen, denn die Kosten der Sozialsysteme steigen. In vielen Ländern in Europa belaufen sich die Sozialleistungen auf über 40 Prozent des Budgets. Man braucht das gar nicht zu werten. Der Punkt ist, dass diese Ausgaben kein zusätzliches Steuersubstrat schaffen. Diese Staaten können deshalb nur sehr beschränkt einen Beitrag zum Wachstum leisten. Es sei denn, sie verschulden sich. Ob wir unseren Wohlstand auf diese Weise langfristig erhalten können, ist mehr als fraglich.

Zweifeln Sie?

Ja. Weil der globale Schuldenberg viel zu gross ist. Er ist in der Pandemie nochmals um rund 20 Billionen Dollar gewachsen. Jetzt werden die Zahlen so richtig astronomisch. Die Staaten konkurrieren mit der Privatwirtschaft bei der Kreditaufnahme. Wir gehen in eine Situation, wie wir sie noch nie erlebt haben. Es ist klar, dass wir unseren Wohlstand mit immer mehr Schulden verteidigen wollen.

Meinen Sie die Zeit vor der Weltwirtschaftskrise 1929?

Ich will das Unheil nicht herbeireden. Aber gewisse Parallelen gibt es schon. Die Aktienmärkte sind so spekulativ wie damals und wir glauben noch fest daran, dass durch höheres Wirtschaftswachstum alle Schulden bezahlt werden können, das kann noch einige Zeit so weitergehen, wenn Schulden nichts kosten.

Wer sind diese Börsenspekulanten?

Es sind weniger die institutionellen Investoren, die bei ihren Anlageentscheidungen doch noch rationale Bewertungsüberlegungen anstellen müssen, als vielmehr eine riesige Schar von Privatanlegern. Diese treiben den Markt im Moment am stärksten an. Gerade in den USA erleben die Gratisbroker einen gewaltigen Kundenzustrom.

An den Märkten scheint die Zuversicht ungebrochen zu sein. Haben Sie 2020 Aktien gekauft?

Ich hatte Ihnen vor einem Jahr gesagt, der Markt sei viel zu teuer und sollte im Frühjahr korrigieren. Da wussten wir noch nichts von Corona. Nun sind wir wieder am gleichen Punkt wie vor einem Jahr. Die Aktienmärkte sind sehr optimistisch zurzeit und anfällig für eine Korrektur.

Wie lange geht das noch weiter so?

Das würden wir alle gerne wissen. Vielleicht geht es noch einige Zeit so weiter. Aber mir fällt diese Vorstellung schwer. Ich glaube eher, dass die Börsen für eine Korrektur anfällig sind. Ich denke zwar nicht, dass wir wieder so tief fallen wie im März 2020, aber eine 20-Prozent-Korrektur von den dannzumaligen Höchstkursen würde mich nicht überraschen.

Sie haben Parallelen zu der Zeit vor der grossen Weltwirtschaftskrise 1929 gezogen. Erwarten aber trotzdem keinen Börsenkollaps. Warum?

Weil wir eine Liquiditätsschwemme haben. Dafür verantwortlich sind die Nullzinsen, die stetige Erhöhung der Zentralbank-Bilanzen, das starke Wachstum der Geldmenge und die Sparquoten. Darum sind neben den Aktienmärkten auch andere Sachwerte wie Gold oder Bitcoin teurer geworden.

Früher kannte man die USA als Lokomotive der Weltwirtschaft. Ist das Land dazu nicht mehr in der Lage?

Das Bild der Wirtschaftslokomotive stammt aus einer Zeit, als die amerikanischen Konsumenten mit ihrem unerschütterlichen Optimismus immer wieder das globale Wachstum antrieben. Die Verbraucher in den USA sind zwar immer noch sehr kauffreudig, aber inzwischen sind auch andere grosse Länder wie China für das Weltwirtschaftswachstum gleich verantwortlich.

Ist der relative Bedeutungsverlust Amerikas auch ein Ergebnis der amerikanischen Politik?

Die Politik trägt eine hohe Mitverantwortung dafür. Barack Obama war ein schwacher Präsident. Er hat niemandem ernsthaft Widerstand geleistet. In den acht Jahren der Obama-Präsidentschaft konnte China richtig stark werden und sich in gewisser Weise verselbständigen. Im Grund haben die Amerikaner China zu dem gemacht, was es heute ist. Erst Donald Trump unternahm konkrete Versuche, diese Entwicklung zu bremsen und beispielsweise das jährliche Handelsbilanzdefizit mit Hilfe von Zöllen zu senken. Aber dafür war es schon zu spät.

Warum ist Donald Trump gescheitert?

Jeder der ihn kannte, wusste, dass er sich mit seinem Verhalten früher oder später unmöglich machen würde. Ich habe ihn einmal getroffen und bin von seiner Abwahl nicht überrascht. Dabei waren Teile seiner Politik gar nicht so schlecht. Er hatte bis zur Pandemie die Arbeitslosenquote auf historische Tiefstände gesenkt, auch bei den Minderheiten.

Und Joe Biden?

Es ist schade, dass sich in einem so grossen demokratischen Land keine besseren Präsidentschaftskandidaten zur Verfügung stellen. Es gäbe jüngere und fähigere Leute. Aber wer will noch Präsident werden in einem Land, in dem der Moralismus und die politische Korrektheit völlig ausser Rand und Band geraten sind.

Michael Bloomberg wollte für die Demokraten kandidieren.

Ja. Aber denen war er zu erfolgreich und angeblich nicht immer politisch korrekt. Die Demokraten haben sich für Biden entschieden, weil dieser das pure Gegenteil von Trump darstellt. Biden ist einfach nur nett. Punkt.

Wird sich auch die Schweiz für oder gegen China beziehungsweise für oder gegen Amerika entscheiden müssen?

Eine solche Entscheidung sollte die Schweiz unbedingt vermeiden, und ich glaube nicht, dass wir das in absehbarer Zeit tun müssen. Die Wirtschaft hat globale Abhängigkeiten und das kann nicht so schnell geändert werden. Viele grosse Schweizer Unternehmen produzieren in China, Indien und vielen anderen Ländern. Einschränkungen wird es nur bei strategisch wichtigen Komponenten geben.

Soeben hat Grossbritannien mit der EU ein Freihandelsabkommen ausgehandelt. Wie sehen Sie den Deal?

Ich bin nicht überrascht und der Finanzmarkt offensichtlich auch nicht, wie man an dem seit einigen Wochen steigenden Pfundkurs sehen konnte. Für die wichtigen Akteure in der Wirtschaft war immer klar, dass es keinen abrupten Unterbruch des Warenverkehrs mit dem Kontinent geben darf. Da waren auf beiden Seiten viel zu grosse finanzielle Interessen im Spiel. Nur die EU-Bürokraten haben aus verhandlungstaktischen Gründen versucht, der Öffentlichkeit eine andere Realität vorzuspielen.

Welche Schlüsse ziehen Sie für die Schweiz?

Für mich zeigt der Freihandelsvertrag zwischen Grossbritannien und der EU, dass die Schweiz keinen Rahmenvertrag mit der EU braucht. Die Schweiz sollte sich nicht ohne Not dem Diktat des Europäischen Gerichtshofes unterwerfen.

Zur Person

Tidjane Thiam ist draussen, Sergio Ermotti ist weg, Urs Rohner sagt Tschüss. Oswald Grübel verfolgt das Mangerkarussell in den Schweizer Grossbanken auch mit 77 Jahren noch mit grossem Interesse, aber aus kritischer Distanz. Bis zu seiner ersten Pensionierung im Jahr 2007 leitete er fünf Jahre die Credit Suisse. Als bald darauf die UBS am Abgrund stand, holte der Verwaltungsrat den Veteranen als Retter aus dem Ruhestand zurück. Die Finanzmärkte sind seine Passion. Als Investor hat Grübel stets die Nase im Wind.

Tidjane Thiam ist draussen, Sergio Ermotti ist weg, Urs Rohner sagt Tschüss. Oswald Grübel verfolgt das Mangerkarussell in den Schweizer Grossbanken auch mit 77 Jahren noch mit grossem Interesse, aber aus kritischer Distanz. Bis zu seiner ersten Pensionierung im Jahr 2007 leitete er fünf Jahre die Credit Suisse. Als bald darauf die UBS am Abgrund stand, holte der Verwaltungsrat den Veteranen als Retter aus dem Ruhestand zurück. Die Finanzmärkte sind seine Passion. Als Investor hat Grübel stets die Nase im Wind.

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