
Bauchfrei ist modisch wieder angesagt – weshalb Eltern die kurzen T-Shirts nicht verbieten sollten
«Fräulein, wenn Sie sich nicht anständig kleiden können, müssen Sie in meinem Unterricht nicht mehr erscheinen.» Es ist einige Jahre her, dass meine Deutschlehrerin diesen Satz zu mir sagte. Siebzehn Jahre alt war ich und sehr beleidigt, dass jemand meinen Kleidungsstil so in Frage stellte. Was ich anhatte? Ein «Crop Top». Also ein bauchfreies Oberteil, weder extrem eng noch extrem kurz – der Lehrerin war es trotzdem zu aufreizend für die Schule.
Sie argumentierte ähnlich wie einige Jahre zuvor eine Schuldirektorin aus Hannover, die Mädchen bauchfreie Oberteile verbieten wollte, weil diese die «Lernsituation zu sehr beeinträchtigen würden». Die anschliessende Diskussion über freie Bäuche und Kleiderordnungen füllte nicht nur in Deutschland tagelang die Zeitungsspalten und Internetforen. «Machen ‹Bauchfrei-Mädchen› ihre Lehrer nervös?», fragte etwa die «Bild»-Zeitung.
Das war 2003. Die Hosen sassen damals knapp über der Schamgrenze, und die Shirts der jungen Frauen waren kaum je lang genug, um ebendiesen tiefsitzenden Hosenbund auch nur zu berühren. Nicht ganz unschuldig daran waren die Promis, die nur zu gerne ihre solariumgebräunte Haut in Szene setzten. Britney Spears etwa zeigte als kesses Schulmädchen mehr Bauch als Gesangstalent.
Jede Generation feiert ihr eigenes Bauchfrei
Heute, zehn Jahre später, spielt sich ein ähnliches Szenario ab. Die Jeans der jungen Frauen schliessen zwar hoch, doch das Oberteil reicht meist wieder nur kurz über den Rippenbogen. Was zu sehen bleibt, ist ein Streifen Haut, mal breiter, mal schmaler, ungeniert und mit beeindruckendem Selbstbewusstsein präsentiert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der schon lange anhaltende Fitnessboom, kombiniert mit der ebenso hartnäckigen Retrowelle die Bäuche wieder freilegt.
Skandalös ist das kaum mehr. Ausser man hat eben selbst eines dieser Bauchfrei-Mädchen zu Hause am Küchentisch sitzen. In nicht wenigen Familien droht die Stimmungslage mit jedem Zentimeter freigelegter Haut in der Körpermitte ins Gehässige zu kippen. «Zieh dir etwas Vernünftiges an», sind da noch die netten Kommentare, die fallen.
Minirock und bauchfrei vor Abendidylle. © Christian Schwier
«Zu viel Haut, zu sexy», lautet der Tenor bei den meisten Eltern. «Sieht gut aus, tragen jetzt alle so und ich steh zu meinem Körper», entgegnen die Töchter und halten ihren Erzeugern gerne noch einen altklugen Vortrag über «Body Positivity» und Feminismus. Denn Mädchen von heute wissen, dass niemand das Recht hat, sie anzumachen oder gar anzugrapschen, nur weil sie bauchfreie Tops tragen.
Auch Männer und ältere Frauen zeigen die Körpermitte
Jeroen van Rooijen © Mareycke Frehner
Es sei nach wie vor etwas rebellisch, bauchfrei zu tragen, sagt Modeexperte Jeroen van Rooijen. «Es ist eine Grenzüberschreitung, die mit grosser Sicherheit für Diskussionen sorgt – aber richtig böse und anstössig ist es nicht.» Mode ist Abgrenzung und Protest, Macht und Machtaneignung, Zeichen der Zugehörigkeit. Van Rooijen sieht die Ursache des Trends im Fitnessbewusstsein der Leute und spricht von einem Statussymbol. «Flacher Bauch, fitter Körper. So was will man zeigen.»
Im Unterschied zu früher machen aber nicht mehr nur die ganz jungen Frauen bei dieser Bauchparade mit, auch 40-jährige Frauen kombinieren zum Faltenjupe gerne mal ein sehr kurzes Shirt und kassieren so den Lohn ihres jahrelangen Pilatestrainings ein. Und ganz neu machen auch die Männer bei bauchfrei mit. Im Internet findet man ganze Bildergalerien mit den schönsten (meist sehr jungen) Männern im Bauchfreilook, darunter American-Football-Profis, Justin Bieber oder Jaden Smith, der 20-jährige Sohn von Will Smith.
Signale aussenden
Doch zurück zu den 14-Jährigen im Crop Top am Mittagstisch: Was viele Eltern umtreibt, ist die Frage, ob ihre Tochter sich mit solchen Shirts nicht zu sehr sexualisiert? Zieht sie damit (männliche) Blicke auf sich, mit denen sie noch nicht umgehen kann? «Viele jüngere Mädchen sind sich tatsächlich nicht bewusst, was für Signale sie mit ihren Kleidungsstücken aussenden», sagt dazu Magdalena Sroka, Psychologin der Familien-, Paar- und Erziehungsberatung in Basel.
Es sei aber nicht nur eine Frage des Stils, sondern der Symbolik. Der Bauch ist eine erotische Zone des Körpers, er signalisiert Zeugungsfähigkeit und Jugendlichkeit. Sroka sagt: «Crop Tops zu tragen und damit den Bauch zu zeigen, kann auch als eine Art sexuelle Befreiung der Frau verstanden werden. Man zeigt damit, dass der Körper einem selbst gehört und dass man selber darüber bestimmen kann.»
Bauchfrei verbieten? Bringt nichts!
Trotzdem ist «bauchfrei» für viele Familien noch ein Tabuthema. Es sei schon vorgekommen, dass Eltern in Sachen Crop Tops ihre Hilfe aufgesucht haben, erzählt die Psychologin. «Die Eltern wollen nicht, dass ihre junge Tochter so viel Haut zeigt, wissen aber nicht, wie sie damit umgehen sollen.» Die einfachste Lösung sei hier ein Gespräch. Man solle der Tochter klar machen, welche Signale sie damit sendet. Und sie nach den Gründen fragen, wem sie mit den kurzen Shirts gefallen möchte.
Allenfalls kann man auch gemeinsam festlegen, wann bauchfreie Shirts kein Problem sind, beim Sport, in der Badi, und wo eher, zum Beispiel in der Schule. «Aber auf keinen Fall sollten Eltern ihren Kindern das Tragen von Kleidungsstücken einfach verbieten», sagt die Fachfrau.
Zudem: Gerade junge Frauen brauchen auch eine grosse Portion Selbstbewusstsein und ein gutes Körpergefühl, um solche Tops zu tragen, beides kann man seinen Kindern nur wünschen. Und zur weiteren Beruhigung sei erwähnt, dass sogar Herzoginnen, deren Stilbewusstsein weltweit bewundert wird, einst so kurze Oberteile trugen, dass Paparazzi mehr als nur einen Bauchblitzer einfingen. Es hat Kate nicht daran gehindert, einen angehenden englischen König zu heiraten.