Bedeutungsverlust? Mitnichten. Die Wirtschaftsverbände erleben ein Revival – fünf Thesen dazu

1. Pandemie macht die Verbände wichtiger

Die Mitglieder schwinden, ausländische Manager haben kein Interesse mehr, die Globalisierung schmälert das Gewicht: Das schreiben Medien und Wissenschaft immer wieder über die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände der Schweiz.

Dezidiert anders urteilt nun die Gewerkschaft Unia in einem Working Paper. Die These des Bedeutungsverlusts sei «ein Vorurteil», schreibt Autor Andreas Rieger in «Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Schweiz». Der Ex- Co-Präsident der Unia untersuchte die Gegenspieler im Auftrag der Unia detailliert bis in die Kantone.

Sein Fazit überrascht. «Die Verbände haben nicht an Bedeutung verloren. Weder in der Gestaltung der Wirtschaft und ihrer Branchen noch wenn es darum geht, beim Staat Einfluss zu nehmen», schreibt er. «Sie spielen nach wie vor in der ersten Liga in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.»

Besonders ausgeprägt zeigte sich das für Rieger in der Coronapandemie. Der Arbeitgeberverband und der Gewerkschaftsbund hätten in dieser Zeit gemeinsam «sehr durchsetzungsstark» agiert und schnell neue Massnahmen zu Gunsten von Betrieben und Beschäftigten erarbeitet. Diese Vorlagen entstanden unabhängig von Parlamentskommissionen und vom Staatssekretariat für Wirtschaft. Weil die Sozialpartner direkte Kontakte zu Bundesrat Guy Parmelin hatten und gemeinsam Druck machten.

Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, vor einem Treffen mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin in der Coronakrise.

Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, vor einem Treffen mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin in der Coronakrise.

Keystone

Auch der Gewerbeverband, Gastrosuisse und der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse fielen in der Pandemie mit hoher Präsenz auf. Economiesuisse präsentierte im Februar ein Drei-Phasen-Modell, das der Bundesrat Mitte April weitgehend übernahm.

2. Gut aus der Krise 2002 gekommen

Besonders gross war die Macht der Wirtschaftsverbände in den 1960er- und 1970er-Jahren. Ihr politischer Einfluss war sehr gross, viele waren reich, hatten einen Organisationsgrad von 50 bis 100 Prozent. Dieser ergibt sich aus dem Verhältnis der Mitglieder der Verbände zur Zahl der Beschäftigten.

Für grosse Probleme sorgten dann die Krise der 1990er-Jahre und die Rezession 2002. Einige Verbände lösten sich auf, andere kämpften mit Mitgliederverlusten und Defiziten. Eine «Schwächung», wie es Rieter formuliert, erlebten vor allem die Verbände der Baumeister, der Chemie und der Maschinenindustrie. Letzterer wurde fast halbiert, er deckte 100 000 Beschäftigte weniger ab.

Nach 2002 fingen sich die meisten Verbände aber überraschend gut auf. Die Verbände mit Arbeitgeberfunktion weisen mit 50 Prozent noch heute einen hohen Organisationsgrad auf.

3. Der Dienstleistungssektor macht mobil

Es ist der Dienstleistungssektor, der die Verluste der Verbände im Industriebereich mehr als kompensiert. Vor allem die privatisierten Bundesbetriebe Post, SBB und Swisscom spielen hier eine wichtige Rolle, sind sie doch inzwischen Mitglied des Arbeitgeberverbands. Die Swisscom ist zusätzlich Mitglied von Economiesuisse.

Viel tat sich auch im Detailhandel und im Gesundheitswesen. Migros und Coop gründeten 2006 die IG Detailhandel und sind nun Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Im Gesundheitswesen sind Curaviva als Verband für die Alters- und Pflegeheime und H+ als Verband der Spitäler Mitglied beim Arbeitgeberverband. «Damit organisierten sich Arbeitgeber mit bis zu 500 000 Beschäftigten neu», sagt Rieger. Insgesamt hätten die Arbeitgeberverbände damit sogar zugelegt.

4. Das Scheitern der SVP-isierung

Über 100 Jahre lang war es der Freisinn, der die Verbände dominierte. Das änderte sich ab 2007, als die SVP mit 28,9 Prozent zur mit Abstand grössten Partei geworden war. Sie drängte in die Wirtschaftsverbände. Zwischenziel war der Gewerbeverband (SGV). Mit Hans-Ulrich Bigler wurde 2008 zwar ein Freisinniger Direktor, doch er wollte den SGV wieder zum «gefürchteten Rammbock gegen Staatsausbau und gegen links machen», wie Rieger schreibt. 2010 und 2012 wurden die SVP-Nationalräte Bruno Zuppiger und Jean-François Rime Präsidenten des Gewerbeverbands.

Gewerbeverbands-Präsident und SVP-Nationalrat Jean-François Rime (rechts) 2019 im Gespräch mit Hans-Ulrich Bigler, FDP-Nationalrat und Direktor des Gewerbeverbandes.

Gewerbeverbands-Präsident und SVP-Nationalrat Jean-François Rime (rechts) 2019 im Gespräch mit Hans-Ulrich Bigler, FDP-Nationalrat und Direktor des Gewerbeverbandes.

Keystone (Bern, 5. Juni 2019)

In dieser Zeit gab es auch eine Annäherung des Arbeitgeberverbands an die SVP. Valentin Vogt, ab 2011 neuer Präsident, ging davon aus, dass die SVP als stärkste bürgerliche Kraft «unumgehbar» sei, heisst es im Papier. Das zeigte sich im Vorfeld der Masseneinwanderungsinitiative der SVP. Die Arbeitgeber verweigerten den Gewerkschaften Konzessionen bei den flankierenden Massnahmen. Als die Initiative am 9. Februar 2014 angenommen wurde, schwenkte Vogt noch stärker in Richtung SVP.

2019 beendete Vogt dann seine Anlehnung. Und 2020 war auch das SVP-Präsidium beim Gewerbeverband Geschichte. Nun übernahm Mitte-Nationalrat Fabio Regazzi. Die SVP-Verbandsoffensive war damit gescheitert. Heute gelten viele kleine und mittlere Verbände als unpolitisch – oder die Bürgerlichen teilen sich die Macht.

5. Schlechte Noten für Economiesuisse

Schlechte Noten erhält im Working Paper der Unia der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Einst galt er als allmächtig. «Doch heute hat seine Durchsetzungsfähigkeit tatsächlich gelitten», sagt Rieger. «Er hat viele interne Interessengegensätze und personelle Probleme.» Rieger nennt die Unternehmenssteuerreform III als Beispiel, die verloren ging. Aber auch die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und die Verhandlungen über das Rahmenabkommen. «Ganz unüblich konnte Valentin Vogt vom Arbeitgeberverband in mehreren wirtschaftspolitischen Dossiers eine führende Rolle übernehmen», heisst es im Papier.

Rieger warnt aber davor, Economiesuisse abzuschreiben. «In vielen Fragen bleibt sie die starke Lobbykraft in Bundesbern», schreibt er. Unverzichtbar sei vor allem ihre finanzielle Potenz. «Weigert sich Economiesuisse einmal zu zahlen, entdeckt man, wie arm die bürgerlichen Parteien sind.»