Bei Verspätungen lassen die SBB kurzerhand Bahnhöfe aus – jetzt greifen die Behörden ein

Wer auf Schweizer Schienen unterwegs ist, muss derzeit einiges aushalten. Mal sind Passagiere mit Verspätungen und langen Wartezeiten konfrontiert, weil sich Gleise wegen der Hitze verbiegen. Mal sorgen Züge mit kaputter Klimaanlage für rote Köpfe. Mal streiken die Verkaufssysteme. Und dann gibt es da noch eine zweifelhafte Praxis, die in den vergangenen Wochen mehrfach den Ärger von Reisenden erregt hat: Um Verspätungen aufzuholen, streichen die SBB den Halt an bestimmten Bahnhöfen kurzerhand – dem Fahrplan zum Trotz.

Weil die Züge ja ohnehin schon unpünktlich sind, ist ein ausgelassener Halt umso mühsamer. Zu spüren bekamen das etwa die Passagiere des Interregio 16 am vergangenen Samstag. Nach seiner Abfahrt um 11.34 Uhr in Bern konnte der Zug nur mit verminderter Geschwindigkeit über die «Bahn 2000»-Strecke durchs Mittelland fahren. Grund dafür war nach Angaben der SBB ein Vorkommnis, das man nicht habe beeinflussen können. So weit, so verständlich. «Ich hatte mich schon darauf eingestellt, dass ich später bei meinem Termin in Baden eintreffen werde», berichtet eine betroffene Reisende. «Aber dass wir dann noch förmlich aus dem Zug geworfen wurden, war der Gipfel.»

Mit einer Verspätung von gut 20 Minuten traf der Interregio in Olten ein. Per Lautsprecherdurchsage erfuhren die Passagiere, dass die Reise für viele hier vorerst zu Ende geht: Ausserplanmässig halte der Zug nicht mehr in Baden und Brugg, erklärte der Zugbegleiter, nach dem Stopp in Aarau werde er direkt nach Zürich durchfahren. «Ein schlechter Service», findet die Baden-Reisende. «Ich musste dann in Olten warten, auf einen Regioexpress umsteigen und so weiterfahren.» Die Verspätung summierte sich am Ende auf über 35 Minuten.

Stadtpräsidentin ist sauer

Gleich erging es Passagieren, die am Abend vor Auffahrt im Intercity 1527 von Zürich ins St.-Gallische reisen wollten – konkret nach Wil, Uzwil, Flawil oder Gossau. Die SBB strichen die Halte nach einer Verspätung von 15 Minuten während der Fahrt glattweg. Reisende mussten in Winterthur aussteigen und von dort aus weiterfahren. Mit dem nächstmöglichen Zug, einem «Sprinter» in Richtung St. Gallen, wären sie beispielsweise in Wil noch 30 Minuten zu spät angekommen. Doch auch daraus wurde nichts: Der Zug fuhr den meisten vor der Nase weg. Mit der nächsten Verbindung kamen die Betroffenen schliesslich mit fast 50 Minuten Verspätung in Wil an.

In den sozialen Medien gingen die Wogen hoch. Die Pendler aus der Stadt seien offenbar keine Fahrgäste, sondern lästige «Drittklasspassagiere», ärgerte sich ein Wiler. Dass die Bahn einen fahrplanmässigen Halt einfach streicht, macht auch die Wiler Behörden sauer. Stadtpräsidentin Susanne Hartmann drückte in einem Brief an die SBB ihr Befremden aus. Der Bahnhof sei für die Stadt und die weitere Umgebung als Drehschreibe zentral. Hartmann forderte die SBB auf, fortan davon abzusehen, den Bahnhof einfach auszulassen.

Diese Woche ist die Antwort der SBB bei der Stadtpräsidentin eingetroffen. Der Brief von Personenverkehrschef Toni Häne liegt der CH-Media-Redaktion vor. Er verstehe das Missfallen der Kunden. Die SBB müssten jedoch «stets das gesamte, dichte Verkehrsaufkommen im Blick haben», bittet Bahnmanager Häne um Entschuldigung. Man versuche, Verzögerungen einzugrenzen und Dominoeffekte zu vermeiden. «Uns ist bewusst, dass wir hin und wieder zu Massnahmen gezwungen sind, die sich direkt auf unsere Passagiere auswirken», schreibt er. «Für die einen positiv, für die anderen negativ.» Im konkreten Fall begründen die SBB die gestrichenen Stopps damit, dass der Intercity ab dem Endbahnhof St. Gallen direkt wieder nach Lausanne verkehren musste. Hätte die Verspätung nicht aufgeholt werden können, wären noch mehr Pendler tangiert gewesen.

Keinen Ersatzzug losgeschickt

Das Problem trifft die SBB in einer anspruchsvollen Zeit, wie Toni Häne in seinem Brief einräumt. Obwohl man die meisten Kunden «bequem, sicher und zuverlässig» an ihr Ziel bringen könne, sei das Bahnsystem zuweilen auch störungsanfällig. «Unser Schienennetz ist so stark befahren wie nie zuvor, in den Stosszeiten sind die zeitlichen Abstände zwischen den Zügen ausserordentlich kurz.» Unter diesen Umständen könnten Verspätungen schon unter normalen Bedingungen auftreten.

Was das heisst, zeigt auch die Störung auf der «Bahn 2000»-Strecke am Samstag. Beeinträchtigt waren 15 Züge, die sich bis zu einer halben Stunde verspätet hatten. Der Interregio 16, der Brugg und Baden ausliess, fuhr schliesslich via Heitersbergtunnel nach Zürich. Ähnliches erlebten die Reisenden in drei weiteren Zügen, die nicht mehr planmässig über die Schienen rollten. Für Personen mit Ziel Brugg und Baden seien das Umsteigen in Olten und die verspätete Ankunft ärgerlich gewesen, erklärt ein SBB-Sprecher. «Wir bedauern das.»

Innert kurzer Zeit habe die Betriebszentrale eine – so der SBB-Sprech – «Massnahme zum Nutzen der Mehrheit» treffen, das Zugpersonal informieren und die Information der Kunden einleiten müssen. Der Sprecher formuliert es so: «Um eine Mehrheit der Reisenden pünktlich befördern zu können, mussten wir leider einer Minderheit das Umsteigen in Olten zumuten.» Ungleich mehr Personen hätten ansonsten ihre Anschlüsse in Zürich verpasst.

Während die einen also noch einigermassen zeitgerecht ankommen, geraten die anderen erst recht in einen Strudel von Verspätungen. Diese Zumutung wird quasi als Kollateralschaden hingenommen. Wie oft ein Halt ausgelassen wird, können die SBB nicht quantifizieren. Gemessen an den 9000 Zügen und 1,2 Millionen Reisenden pro Tag komme dies aber selten vor, heisst es. Es handelt sich um eine äusserste Massnahme. Verspätet sich der ursprüngliche Zug, würden an Knotenbahnhöfen wenn immer möglich Ersatzzüge losgeschickt, um Dominoeffekte zu verhindern. Offen bleibt die Frage, warum das jüngst nicht geschehen ist. Eine mögliche Antwort: Züge sind bei den SBB derzeit ebenso knapp verfügbar wie Lokführer.