
Besuch in der Notschlafstelle Baden: «Jeder kann obdachlos werden»



Im Herzen der Badener Altstadt ist es bereits dunkel, als Susi Horvath die grüne Türe zur Notschlafstelle öffnet. Draussen ist es eisig kalt an diesem Abend, die hübsche Weihnachtsbeleuchtung an der unteren Halde lenkt nur kurz von den Temperaturen ab.
Dass es Menschen gibt, die auch an einem solchen Winterabend kein Zuhause haben, in das sie einkehren können, ist vielen nicht bewusst. «Sie schlafen dann oftmals in Parkhäusern oder am Bahnhof», sagt Susi Horvath. Sie leitet die Notschlafstelle an der Oberen Halde. Am 1. September dieses Jahres öffneten sich die Tore hier zum ersten Mal. Im Kanton Aargau ist es die einzige Institution ihrer Art.
Dass es in einem Land wie der Schweiz keine Obdachlosen gibt, oder dass diejenigen, die auf der Strasse schlafen, dies tun, um dem System zu trotzen, sei ein weitverbreiteter Irrtum, sagt Horvath: «Man kann hinschauen oder nicht. Es ist ganz klar, dass es eine Obdachlosigkeit gibt hier bei uns.» Susi Horvath spricht in bestimmtem aber freundlichem Ton.
Ein warmes Bett und zwei Mahlzeiten für fünf Franken
Es ist kurz vor halb neun, als es an diesem Abend zum ersten Mal an der Türe klingelt. Susi Horvath stürmt schnell nach unten, die steilen Treppen im vierstöckigen Altstadthaus ist sie sich bereits gewohnt. An der Türe steht keine Unbekannte. Die Frau kommt nun seit längerer Zeit jeden Abend her. Sie trägt Jeans und eine Winterjacke. Ihre Beine sind dünn und wackelig, sie ist aufgebracht und angetrunken.
Ihre Sorgen schüttet sie noch auf der Türschwelle bei Horvath aus. «Komm erst mal rein», sagt Horvath mit beruhigender Stimme. Ob sie etwas getrunken habe? Die Frau verneint und wird von der freiwilligen Helferin Margrit auf ihr Zimmer gebracht.
Fünf Franken kostet die Übernachtung in der Notschlafstelle. Dafür bekommen die Menschen für eine Nacht ein sauberes Bett in einem Zweibettzimmer, ein Abendessen und einen Bon für ein Frühstück im Sozialwerk Hope. «Manchmal kommen sie noch rauf in die Küche. Manchmal gehen sie aber gleich ins Bett.» Die Küche im Herzen des Hauses dient auch als Begegnungsraum und hier darf geraucht werden.
Dort sitzt mittlerweile die Freiwillige Margrit und flickt einen Putzlappen. Margrit ist pensioniert. Wenn die obdachlosen Personen dies möchten, wärmt sie ihnen ein Essen auf. Wenn jemand dabei nicht reden möchte, sei dies völlig in Ordnung. «Wir drängen uns nicht auf. Wir sind einfach da.» Später macht Margrit eine Kanne warmen Kaffee. Man spüre die Dankbarkeit: «Auch wenn sie nicht ausgesprochen wird.»
«Wie viele andere habe ich gedacht, dass jeder ein Zuhause hat. Mein Denken hat sich verändert», sagt Margrit. Den Obdachlosen stelle man sich ganz anders vor, als er ist: «Man hat immer das Gefühl, dass man es ihnen ansehen müsste. Das ist aber nicht so.» Der Verein Notschlafstelle ist auf Freiwillige wie Margrit angewiesen und auch auf der Suche nach weiteren Helfern, sagt Susi Horvath: «Die Freiwilligen müssen Freude haben daran, Menschen, die nicht so privilegiert sind wie wir, etwas zu geben.»
Oft steckt eine Suchterkrankung hinter der Obdachlosigkeit
Zwölf Betten stehen im Haus zur Verfügung, je sechs für die Notschlafstelle und sechs für die Notpension, wo Menschen für längerfristige Lösungen untergebracht werden (siehe Text rechts unten). Sollten aber die Betten der Notpension nicht vollständig belegt sein, kann Horvath auch mehr als sechs Obdachlose pro Nacht aufnehmen.
Seit der Eröffnung Anfang September hatten sie rund 300 Übernachtungen. Am Anfang seien sie überrannt worden von Arbeitsmigranten: «Ein Phänomen, das man in vielen Notschlafstellen kennt.» Da diese Menschen zwar nicht das Zielpublikum sind, Horvath sie aber nicht auf der Strasse stehen lassen wollte, fanden sie eine Einigung: Jeder Arbeitsmigrant darf eine Nacht bleiben.
Die Obdachlosen, die hier einkehren, kommen aus den unterschiedlichsten Gründen, wie Susi Horvath erzählt: «Oftmals steckt eine Suchterkrankung hinter der Obdachlosigkeit oder es sind Menschen, die aus einer psychiatrischen Institution wie Königsfelden rauskommen.» Manchmal würden die Personen auch von der Polizei gebracht.
Die Notschlafstelle ist ein sicherer Ort für Menschen, die durch alle Auffangnetze durchgefallen sind. Auch der Gang zum Sozialamt sei für manche bereits eine Überforderung: «Es gibt Menschen, die ihre Wohnungen verlieren, weil sie vielleicht nicht einmal mehr in der Lage sind, ihre Rechnungen zu bezahlen oder Ordnung zu halten», sagt Horvath.
Dies habe nichts mit sozialen Schichten zu tun. «Obdachlos kann jeder werden.» Es seien oft Schicksalsschläge, die dazu führen könnten, dass man das Dach über dem Kopf verliert: Der Tod eines Familienmitglieds, eine Trennung oder der Verlust einer Arbeitsstelle.
Es klingelt erneut an der Türe, Susi Horvath huscht nach unten. Es ist ein Mann mit Suchtproblemen, Anfang 20. Er komme immer dann, wenn er einen Fünfliber hat. «Willst du noch etwas essen?», fragt Horvath den jungen Mann. «Nein», sagt er. Am Anfang sei er nie in die Küche gekommen. «Jetzt kommt er ab und zu einen Kaffee trinken. Er hat eine Freundin, bei der er tagsüber ist. Aber er hat keinen festen Wohnsitz.»
Man erlebe hier in der Notschlafstelle viele Schicksale, sagt Horvath. Genau aus diesem Grund sei es wichtig, die Menschen mit dem Hilfsangebot nicht zu überrumpeln. «Wir haben hier keine beratende Funktion, wir sind einfach hier, um sie zu empfangen.» Diese Niederschwelligkeit sei sehr wichtig, um Vertrauen aufzubauen. Menschen, die seit Jahren auf der Strasse lebten, hätten Mühe mit Strukturen.
Längerfristig sei das Ziel aber, den Menschen auf die Beine zu helfen und Anschlusslösungen aufzuzeigen: «Wir machen sie darauf aufmerksam, dass sie am nächsten Tag nach dem Frühstück die Möglichkeit haben, sich im Hope eine Sozialberatung zu holen.» Hope biete den Menschen, die länger hier sind auch an, ihre Adresse zu hinterlegen, damit sie wieder eine Anschrift haben.
«Eventuell kann man sie in einer betreuten Wohninstitution unterbringen oder man schaut mit ihnen gemeinsam, dass sie sich bewerben können», sagt Horvath.
Hier bekommen Menschen ohne Obdach auch warme Kleidung
Die Notschlafstelle hat zwei Mitarbeiterinnen und zwei Mitarbeiter. Die restliche Arbeit teilen sich rund 23 Freiwillige Helfer, die meist die ganze Nacht bleiben. Die Zweibettzimmer sind einfach aber liebevoll eingerichtet, sie haben je ein Lavabo und einen abschliessbaren Spind. Viele Habseligkeiten haben die Menschen, die hier übernachten, sowieso nicht.
Spätestens um 8.30 Uhr am nächsten Morgen müssen die Menschen ihr Bett abziehen und das Haus verlassen. Einen Platz reservieren kann man nicht. Aber solange es freie Betten hat, können die Obdachlosen bis zu zwei Monate lang wiederkehren.
Horvath begibt sich in den Keller des Hauses. Der kleine Raum ist voll mit warmen Kleidern und Schuhen, allesamt aus Kleiderspenden: «Diese Socken hat eine Frau für uns gestrickt und sie vorbeigebracht.» Auf einem Tisch stehen zwei Hundeboxen.
Auch Vierbeiner sind hier willkommen: «Wenn es den Zimmernachbarn nicht stört, darf der Hund auch im Haus übernachten. Sonst bleibt er hier.» Die Hilfesuchenden können am Abend auch ihre Kleider in die Waschmaschine legen: «Wir waschen sie und geben sie ihnen am nächsten Morgen zurück.»
Reibereien habe es bis jetzt nur selten gegeben. Es käme vor, dass jemand im Zimmer raucht: «Dann bekommt diese Person eine Verwarnung.» Sollte es eskalieren, ist die Polizei in zwei Minuten da. Werden die Hausregeln zum zweiten Mal gebrochen, wird ein weiterer Einlass verwehrt.
Die anfänglichen Bedenken, dass renitente Obdachlose im Quartier herumlungern oder Lärm machen würden, seien verflogen: «Wir haben zu unseren Nachbarn ein sehr gutes Verhältnis.» Ganz spät am Abend klingelt ein Mann, Mitte 40. Er sieht alles andere als obdachlos aus.
Er hat immer wieder einmal Arbeit, hat aber auch einige Betreibungen und findet auch deshalb keine Wohnung. Er ist in der Notpension untergebracht und hat somit im Vergleich zu den Menschen, welche die Notschlafstelle aufsuchen, eine sichere und längerfristige Übernachtungsmöglichkeit.
Mit der Presse reden möchte an diesem Abend niemand. «Es spielt ganz viel Scham mit. Das hier will keiner», sagt Horvath. An Weihnachten und Sylvester werden sie und ihr Team im Haus kochen, einen Beamer aufstellen und einen Film zeigen. Das Wichtigste sei es, die Menschenwürde zu wahren und Vertrauen aufzubauen.
Die Finanzierung der Notschlafstelle ist für die ersten drei Jahre gesichert. Das Ausbaupotenzial sei da, sagt Susi Horvath: «Wir sind überzeugt, dass es diese Unterkunft braucht.»
Kooperation mit Sozialwerk Hope
Der Verein Notschlafstelle Aargau und das christliche Sozialwerk Hope haben sich zusammengeschlossen und eröffneten am 1. September die Notunterkunft im Kanton Aargau. Präsident des Vereins Notschlafstelle ist Kurt Adler-Sacher. Das Angebot und die 12 Schlafplätze sind zweigeteilt: Sechs Betten stehen der Notschlafstelle zur Verfügung, sechs Betten der Notpension. Der Unterschied: Die Notschlafstelle bietet kurzfristige Übernachtungsmöglichkeiten und wird durch die römisch-katholische und die Reformierte Landeskirche im Aargau, den Ortskirchen von Baden, von Stiftungen, Spendern und aus dem Swisslosfonds des Kantons finanziert. Die Plätze der Notpension hingegen bieten Menschen eine längerfristige Unterkunft und werden durch die IV oder die Sozialhilfe finanziert. Durch den Zusammenschluss der beiden Vereine können sie sich die Kosten teilen. Die Notschlafstelle hat jeden Tag geöffnet. Einkehren können Menschen, die hier übernachten möchten, zwischen 20 und 23 Uhr.
Politische Vorgeschichte
In Vergangenheit war auf politischer Ebene viel über die Notwendigkeit einer Notschlafstelle diskutiert worden. Ende 2011 hat die damalige EVP-Grossrätin Lilian Studer eine Interpellation eingereicht. Sie wollte wissen, ob es Angebote gebe für Personen mit Suchtpotenzial, die sich nicht an Regeln halten können. Die Regierung hielt damals aber fest, dass sich per Gesetz nicht der Kanton um eine Notschlafstelle kümmern müsste, sondern die Gemeinden. Auch als der Verein Hope 2017 bei der Regierung eine Anfrage zur Unterstützung eines Wohnprojekts für Menschen mit Sucht stellte, erteilte der Kanton eine Absage. Der Regierungsrat argumentierte damals damit, dass eine gesetzliche Grundlage fehlte.