
Bücherabend zu Georgien: Buntfarbiges Glasperlenspiel der Poesie
Elf Bücher müsste lesen können, wer sich fundiert auf die Literaturtage Zofingen vom 19. bis 21. Oktober vorbereiten möchte. Die Palette reicht vom schmalen Bilderbuch «Schlaf gut» von Tatia Nadareischwili über den Ritterroman und das Nationalepos «Der Recke im Tigerfell» bis hin zum 750-Seiten-Roman «Die Katze und der General» von Nino Haratischwili. Der Bücherabend in der Buchhandlung Mattmann war luftig-leicht und hat den einen oder anderen Buchkauf ausgelöst.
Sinnstiftende Tradition
Nahezu alles gelesen haben Markus Kirchhofer, Programmleiter der Literaturtage Zofingen, sowie Cécile Vilas, Mitglied der Programmkommission. Beide haben einen vielgestaltigen Blick auf das Land am südlichen Rand des Kaukasus gewonnen. Markus Kirchhofer hat Georgien dieses Frühjahr besucht – und darüber gestaunt, wie die Vitalität dieses Landes alle Tragik und Armut überstrahlt, selbst die jüngsten, kaum zehn Jahre herrührenden Kriegsgeschehnisse und die nach wie vor intakte russische Besatzung der Landesteile Südossetien und Abchasien. Sein ureigenes Selbstverständnis hat das christlich-orthodox geprägte Georgien stets aus seinen Traditionen geschöpft, die eigene Sprache und das eigene Alphabet haben zur Wahrung der Identität beigetragen. Schota Rustawelis Ritterroman «Der Recke mit dem Tigerfell» um zwei Paare, die in harten Prüfungen umeinander ringen, bringen Georgiens Frauen heute noch als Mitgift in die Ehe ein. Jeder georgische Literaturschaffende dockt an diesen Roman in irgendeiner Form an.
Freude an der Inszenierung
Cécile Vilas erläutert einen weiteren Schlüssel zum Verständnis Georgiens: «Theater ist in diesem Land schon in vorchristlicher Zeit gespielt worden.» Die 58 Theaterhäuser mit mehrheitlich jungem Publikum bei nicht einmal 40 Buchhandlungen landesweit belegen es: Der Sinn für Tragödie und Komödie, Dramaturgie und Theatralik gehört zur DNA der georgischen Literatur.
Davit Gabunia, wichtigster junger Dramatiker Georgiens, überblendet in seinem Debütroman «Farben der Nacht» Cornell Woolrichs Fenster zum Hof mit einer Geschichte um betrogene Liebe. Das sich zur Katastrophe zuspitzende Drama hat angesichts der unversöhnlichen Ansprüche der Protagonisten etwas Unausweichliches. Komödiantisch und leicht, aber nicht seicht ist der gewitzte Roman «Beststeller» von Beka Adamaschwili. Der Protagonist
Pierre Sonnage stürzt sich spektakulär vom Burj Khalifa und will seinem Roman postum zum Erfolg verhelfen – derweil er in der Literatenhölle durch die Mangel gedreht wird. Wie Cécile Vilas verdeutlicht, weiss der Roman durch intertextuelle Querverweise und neckische Fussnoten zu amüsieren.
Menschliche Abgründe
So frech und leichtfüssig wie Adamaschwili ist Nino Haratischwili, die notabene in deutscher Sprache schreibende Starautorin Georgiens, nicht. Ihr brandneuer Roman «Die Katze und der General» ist ein Schuld-und-Sühne-Roman, der von Dramatik und einer luziden Beobachtungsgabe lebt. Der schonungslos unbestechliche Blick auf menschliche Abgründe wühlt die Leserschaft auf. Iunona Gurulis zutiefst bildhaft-metaphorische Erzählsammlung «Wenn es nur Licht gäbe, bevor es dunkel wird» zeichnet düstere Lebensbilder von Frauen, die von Männern brutal behandelt oder im Stich gelassen werden. In seinem brandneuen Buch «Der erste Russe» verarbeitet Lasha Bugadze ein eigenes Zensurerlebnis im Schoss der unnachgiebig humorlosen orthodoxen Kirche Georgiens.
Spannung verspricht an den Literaturtagen die zweifach aufgezogene dialogische Begegnung zwischen georgischen und schweizerischen Literaturschaffenden. Die Zofinger Autorin Margrit Schriber trifft mit ihrer emanzipatorisch aufblühenden Tankstellenbesitzerin Petra aus ihrem Roman «Glänzende Aussichten» auf die auf wundersam poetische Art identitätssuchenden Frauen aus Salome Benidzes «Die Stadt am Wasser». Der Berner Autor Lukas Hartmann, der sich mit seinem Roman «Ein Bild von Lydia» der geheimnisvollen Lydia Escher-Wyss annähert, trifft auf Zurab Karumaidze. Dieser hat sich in «Dagny oder ein Fest der Liebe» eine schillernde Frau vorgenommen, um die sich in einem überbordenden Farbenspektrum zentrale Figuren der georgischen Geschichte drehen. Das Fest scheitert mit Grandezza. Es passiert also einiges an diesen Literaturtagen in Zofingen. Wenn auch vorerst nur zwischen zwei Buchdeckeln.