Bundesrat übernimmt das Ruder: Heute letzte Warnung – funktioniert dies nicht, kommt der Lockdown

Ein Land in Aufregung: So präsentierte sich die Schweiz in den letzten zwei Tagen. Desavouierte Kantonsvertreter, wütende Parlamentarier, verwirrte Bürgerinnen und Bürger, verunsicherte Gastronomen, steigende Fallzahlen, eine der höchsten Sterberaten der Welt. «Wie hat es dieses Land dermassen vermasseln können?», fragte gestern der «Tages-Anzeiger» auf der Frontseite.

Die Antwort darauf gab Gesundheitsminister Alain Berset im «Blick»: «Vor zwei Wochen hätte ich Ihnen gesagt, dass wir auf Kurs sind. Die Fallzahlen sanken, ich war zuversichtlich, dass wir zu Weihachten bei etwa 1000 Fällen am Tag landen.» Hätte gesagt? Das hat Berset gesagt. Wenn wir eines gelernt haben in dieser Pandemie: Exponentielles Wachstum ist brutal. Und die Halbwertszeit von Aussagen kurz. 

Heute sind die Blicke wieder auf den Bundesrat gerichtet. Auf die drei Damen und vier Herren, die etwas nicht können: Verantwortung abschieben. Sie sind die letzte Instanz. Mit ihren Entscheiden werden sie dafür sorgen, ob die Ausweitung der Pandemie gebremst wird. Sie müssen spüren, welche Massnahmen von der Bevölkerung mitgetragen werden und deshalb auch wirken. Sie müssen entscheiden, wie viel öffentliches Leben noch zugelassen wird, wie offen die Wirtschaft sein darf.

Am letzten Freitag drückte sich das Gremium um diese Entscheidung. Die bürgerlichen Bundesräte wollten den Kantonen noch einmal eine Chance geben, um härtere Massnahmen zu beschliessen. Schliesslich war der Gesamtbundesrat vor den Sommerferien sehr froh, dass er die ausserordentliche Lage beenden konnte und die Hauptverantwortung für die Pandemiebekämpfung wieder den Kantonen zu übertragen. Die Erleichterung, sie war spürbar. Die Vorwürfe, der Bundesrat sei in einen Machtrausch geraten, hinterliessen bei den Magistraten Spuren. Die Verantwortung liegt bei den Kantonen, war das bundesrätliche Credo der zweiten Welle. Bis am letzten Dienstag.

Unzufrieden mit dem Zaudern der Kantone, übernahm wieder der Bundesrat. Das Gremium diskutierte lange und intensiv, um einen Konsens zu finden. Um die Reihen wieder zu schliessen. Ob der Bundesrat die Öffentlichkeit informieren soll über die Vorschläge, war intern umstritten. Berset und Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga traten schliesslich vor die Medien. Sie wollten die Informationshoheit behalten. Den verschiedenen Akteuren Planungssicherheit geben. Nicht, dass der Gastronom zu viele Entrecôtes oder Gemüse einkauft.

Dass er damit ein Chaos auslösen würde, war dem Bundesrat wohl nicht bewusst. Was gilt nun: die neuen Massnahmen der Kantonsregierung oder die Vorschläge des Bundesrates? Nur: Die geplanten Regeln wären ohnehin an die Öffentlichkeit gelangt. Die Indiskretionen aus dem Bundesrat sind zum Merkmal dieser Krise geworden. «Bei so schwierigen Geschäften darf es das nicht geben», konstatierte alt Bundesrat Pascal Couchepin diese Woche in der NZZ. Die Indiskretionen würden Schlagzeilen und Unruhe bringen. Recht hat er. Nur sind die Kantone daran nicht ganz unschuldig.

Heute ist fertig Föderalismus, willkommen Zentralismus. Dass der Bundesrat noch grosse Anpassungen an seinen Vorschlägen vornimmt, ist eher nicht zu erwarten. Es ist also wieder Bundesratszeit. Doch wo steht das Gremium heute?

In der ersten Welle war es eine ziemliche Einheit, zumindest bist zu den Lockerungen. Natürlich weiss die ganze Schweiz, dass zwischen Viola Amherd, die einst eine Ausgangssperre wollte, und Ueli Maurer, der auch mal umgangssprachlich von einer Grippe spricht, anschauliche Welten liegen. Nur: Der Bundesrat als Abbild der Bevölkerung – dieses Bild mag selbst das Gremium.

Berset ist als Gesundheitsminister immer noch im Fokus. Gerade eben ist ein Buch über ihn erschienen. Das Bild des Helden hat allerdings Risse bekommen. T-Shirts mit seinem Konterfei will heute niemand mehr verkaufen. Als er am 12. Oktober das St. Galler Fussballstadion besuchte, sagte er: «Im Kybunpark wurde mir heute gezeigt, wie Grossveranstaltungen mit 10’000 Zuschauern funktionieren können.» Es war ein gewagtes Zeichen, die Zahl der täglichen Neuinfektionen lag damals schon über tausend.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Bundespräsidentin Sommaruga schon reagiert und die Kantone zu einem Krisengipfel eingeladen. Am 18. Oktober erliess der Bundesrat leichte Verschärfungen, Ende Oktober justierte er nach. Sommaruga übernahm eine aktivere Rolle in der zweiten Welle, machte Druck auf die Kantone. Zwischen ihr und Berset herrschte zuweilen auch dicke Luft. Inhaltlich waren sie sich allerdings durchaus einig. Zusammen mit Amherd bildeten sie das Trio mit der harten Linie. Justizministerin Karin Keller-Sutter stand immer irgendwo dazwischen. Ihre bürgerlichen Kollegen Ignazio Cassis, Guy Parmelin und Ueli Maurer eher auf der legeren Seite.

Parmelin darf ab Neujahr das Gremium nun als Bundespräsident führen. Er wird Sommarugas Rolle übernehmen. Vielleicht wird ein neues Gesicht den alten Botschaften – Distanz halten, Kontakte minimieren, eigenverantwortlich und solidarisch handeln – neuen Schub verleihen.

Finanzminister Ueli Maurer macht derzeit, was er am besten kann: Er schnürt ein neues Hilfspaket – und zieht voll mit auf der bundesrätlichen Linie. Im Frühling hatte er sichtlich Freude, als er das Covid-Kreditprogramm präsentieren konnte. Ueli, der Macher. Das ist seine liebste Rolle.

Der Bundesrat hat wieder Tritt gefasst. Heute wird die letzte Instanz eine letzte Warnung aussprechen: Funktionieren die neuen Massnahmen nicht, dann kommt der Lockdown.