Denken Sie daran: Sie sind systemrelevant

Der Kanton Tessin verbietet Rentnern den ÖV, das Hüten von Enkeln. Gymnasien und Berufsschulen sind geschlossen. Wir alle sollen zwei Meter Abstand halten, uns distanzieren, die Hände oft waschen, von zu Hause aus arbeiten, nicht mehr an Fussballspiele gehen, unsere Grossmutter meiden, keine Konzerte besuchen – und wenn nötig tagelang in die Selbstisolation gehen. Und es werden noch krassere Massnahmen folgen. Die Tessiner Anordnungen gelten wohl bald in der ganzen Schweiz.

Heftig ist das. Diese Corona-Krise wird das private und öffentliche Leben so einschneidend ändern wie es die allermeisten von uns noch nie erlebt haben.

Das Virus kam lautlos und schnell. Der Ernst der Lage wurde uns eher zu spät als zu früh bewusst. Noch jetzt sind viele Leute am Lamentieren. Es werde übertrieben. Es sei eine Medienhysterie. Das Virus sei ja nicht viel schlimmer als die Grippe. Für die allermeisten Leute, die Corona durchseuchen werden, trifft das zu. Doch für einige ist Covid-19 schlimmer als die Grippe – und damit auch öfter tödlich. Vielen schwer kranken Corona-Patienten kann geholfen werden, wenn in den Spitälern genug Intensivplätze, genug Personal, genug Schutzausrüstung und genug Beatmungsgeräte bereitstehen. Und genug von alldem hat es nur dann, wenn nicht zu viele Patienten aufs Mal eingeliefert werden. Das erleben norditalienische Spitalärzte derzeit dramatisch. Italien versucht neue Intensivstationen einzurichten, kauft Beatmungsgeräte, rekrutiert 20 000 zusätzliche Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger. Und denken Sie nun bitte nicht: Ach, das ist halt Italien. Das norditalienische Gesundheitssystem ist nicht schlechter aufgestellt als das hiesige. Seien wir uns bewusst: Das Corona-Virus wird spätestens dann für die Hysterie-Kritiker zur handfesten seelischen Herausforderung, wenn der eigene Vater oder die eigene Grossmutter im Spital liegt und mit dem Tod kämpft.

Damit alle schwer Erkrankten zumindest die Chance haben, dank einer guten Gesundheitsversorgung zu überleben, sind die aktuell verordneten und empfohlenen Massnahmen dringend zu beachten. Und die Empfehlungen kommen letztlich aus der Wissenschaft. So wird die Corona-Krise gerade in den westlichen Demokratien, in welchen staatliche Anordnungen nur dann gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger auch Vertrauen haben, zu einem grossen Test, ob wir der Wissenschaft vertrauen.

Und die Epidemiologen empfehlen Folgendes: Befolgt die Hygiene-Massnahmen und haltet Abstand. Geht nicht an Veranstaltungen mit vielen Besuchern. Schützt die ältere Bevölkerung. Bleibt zu Hause! Letztlich werden sich viele Leute mit Corona infizieren. Aber bitte nicht jetzt, bitte nicht zu schnell. Denn dann kollabiert das Gesundheitssystem.

Wer nun immer noch zu den Skeptikern gehört, sollte beobachten, wie sich Grossfirmen verhalten. Banken und Versicherungen, welche gewohnt sind, kühl den wirtschaftlichen Nutzen abzuwägen, reagieren mit Team-Splittings und grossflächigem Homeoffice. Sie nehmen die Lage ernst, sehr ernst.

Doch das Homeoffice wird in den nächsten Wochen noch zur sozialen Belastungsprobe. Für Väter und Mütter kann es ja eine Zeit lang schön sein, sich mittags mit den Kindern an den Tisch zu setzen. Doch alleinstehenden – vor allem jungen – Arbeitnehmern wird schon nach einer Woche Homeoffice die Decke auf den Kopf fallen. Video-Calls können das soziale Grundrauschen eines Bürobetriebs nicht ersetzen. Auf dem Weg vom WC zum Arbeitsplatz sitzt keine Kollegin, mit der man einen kurzen Schwatz abhalten kann. Und irgendwann sind auch die Vorhänge gewaschen und der Backofen gereinigt.

Die Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens haben einen hohen wirtschaftlichen Preis. Firmen in der Veranstaltungs-, Tourismus- und Gastro-Branche droht der Konkurs. Das gilt es zu verhindern. Hier muss der Staat unbürokratisch helfen. Das kann er, dafür ist er da.

Zu den Pandemie-Vorkehrungen der Schweiz gibt es erste Fragezeichen. Hat man die Wichtigkeit von Masken und Mundschutz unterschätzt? Und ist es richtig, schon zum jetzigen Zeitpunkt auf schnelles und flächendeckendes Testen bei Corona-Verdacht zu verzichten? Südkorea fährt eine andere Strategie, und auch WHO-Experten empfehlen: Testen, testen – und Covid-19-Kranke schnell isolieren.

Die Zweifel an der Führung der Behörden wachsen. Es fehle an Leadership, wie der Tessiner Spitalarzt Andreas Cerny gestern im «Tages-Anzeiger» bemängelte. Entscheide würden nach dem Prinzip Tröpfchenzähler gefällt: immer ein bisschen, aber nie ganz. Man muss ihm recht geben. Letzte Woche war die Kommunikation von Berset und Co. noch einleuchtend. Eine neue Hygiene-Massnahme nach der anderen. Doch diese Woche? Der Strategiewechsel anfangs Woche wurde eher nebenbei verkündet. Neu sollen wir bei Corona-Verdacht in die Selbstisolation. Eine heftige Massnahme, die viel Eigenverantwortung voraussetzt. Und dazu gibt es auch fünf Tage nach Verkündung auf der BAG-Seite erst ein trockenes PDF-Dokument – sonst nichts. Kein Plakat, kein Erklär-Video.

In der Finanzkrise hat die Politik resolut gehandelt. Grossbanken wurden als systemrelevant eingestuft und gerettet. In der Corona-Krise ist jedermann systemrelevant. Erstens, weil jedes Leben gleich zählt, jedem und jeder die beste medizinische Versorgung zusteht. Wir können nicht einfach sagen, das Virus treffe nur wenige tödlich, das müsse man halt hinnehmen. Und wir sind alle systemrelevant, weil wir alle mit sozialer Distanzierung und Hygienemassnahmen die Ausbreitung bremsen können. Je besser sich alle daran halten – auch die Jungen, desto stabiler bleibt unser Gesundheitssystem.

Mit dem Strategie-Wechsel empfiehlt das BAG nun, dass alle Leute, welche selbst zum Schluss kommen, dass sie Corona haben könnten, zu Hause bleiben und sich selbst isolieren. Die Aufgabe wird so für jeden einzelnen noch einen Schritt verantwortungsvoller. Wir müssen uns nun selbst eine Diagnose stellen und handeln. Wenn wir einen trockenen Husten und Fieber haben, vielleicht noch eine deutliche Müdigkeit, vielleicht eine laufende Nase, dann sind wir wohl an Covid-19 erkrankt. Dann gilt es, sich selbst zu isolieren und durchzuseuchen. Das ist aufwendig, einsam und mühsam. Aber nötig. Einen Test empfiehlt das BAG in solchen Fällen nicht mehr. Den Arzt sollen nur Personen der Risikogruppen oder jene, die schwere Symptome wie Atembeschwerden haben, konsultieren und das immer zuerst telefonisch.

Mit der Empfehlung, Verdachtsfälle nicht mehr zwingend zu testen, beginnt nun auch eine Phase des Blindflugs. Wir können die Fallzahlen nicht mehr mit anderen Ländern vergleichen. Und das BAG braucht wohl etwas Zeit, um mit anderen Methoden und Hochrechnungen das Ausmass der Epidemie zu erfassen.

Nun stellt sich in diesem Blindflug die Frage: Wie verhalte ich mich im sozialen Leben? Gehe ich abends noch auswärts essen? Besuche ich den Turnerabend in Oftringen, die Museumsnacht in Aarburg? Diese Entscheide sind Teil der Eigenverantwortung. Auf das soziale Leben ausserhalb der eigenen vier Wände gänzlich zu verzichten, ist schwierig. Doch im Blindflug, in dem wir derzeit alle sind, ist es wohl besser, im Zweifel zu Hause zu bleiben. Kaufen Sie ein neues Kochbuch, einen Krimi, ein Gesellschaftsspiel, kramen Sie die Jasskarten hervor, gehen Sie draussen joggen statt im Fitness-Studio aufs Laufband. Und denken Sie daran: Sie sind systemrelevant.