Der Ceneri-Tunnel wird eröffnet, die Neat ist vollendet – doch die Bauwerke haben ihre Schattenseiten

Es ist so weit. An diesem Freitag wird die offizielle Eröffnung des neuen Ceneri-Basistunnels gefeiert – angesichts des Coronavirus und der nötigen Schutzmassnahmen allerdings in bescheidenem Rahmen. Nur einige Dutzend der ursprünglich 650 geladenen Gäste werden dabei sein. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, Bundesrat Ignazio Cassis und andere werden den Tunnel offiziell an die Betreiberin SBB übergeben. Im Dezember folgt dann die Inbetriebnahme mit der Umstellung auf den Fahrplan 2021.

Mit dem Ceneri-Basistunnel wird die Neue Alpentransversale (Neat) fertiggestellt, ein Jahrhundertbauwerk, das 28 Jahre für seine Realisierung benötigte – der Ceneri allein 14 Jahre – und rund 22 Milliarden Franken verschlang. Eine Flachbahn durch die Alpen, «die als Beitrag zum Alpenschutz einen wichtigen Beitrag für die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene leisten soll», wie Verkehrsministerin Sommaruga unermüdlich wiederholt.

Tatsächlich ist der Ceneri nach dem Lötschberg- und Gotthard-Basistunnel sowie dem Ausbau auf 4-Meter-Eckhöhe das vorläufig letzte Puzzle im wichtigsten europäischen Güterverkehrskorridor Rotterdam–Genua. Trotz neuen Supertunnels werden auch künftig die Güterzüge auf der Stammstrecke mitten durchs Zentrum von Bellinzona/Giubiasco sowie südlich von Lugano durch dicht besiedeltes Gebiet rattern. Der Ausbau Süd bis zur Grenze nach Italien bei Chiasso steht noch in den Sternen, und auf den Zulaufstrecken im Ausland hapert es gewaltig. Konkreter sind die Vorteile bereits beim Personenverkehr.

Ex-Bundesrat Moritz Leuenberger beim Start der Bauarbeiten.

Ex-Bundesrat Moritz Leuenberger beim Start der Bauarbeiten. © Keystone (2. Juni 2006

Für die Bahnkunden verkürzen sich die Reisezeiten zwischen Nord- und Süd um rund 20 Minuten:

  • Eine Fahrt von Zürich nach Lugano wird noch knapp zwei Stunden dauern.
  • Von Luzern nach Lugano dauert die Zugfahrt fortan noch 1 Stunde und 40 Minuten.
  • Ein EuroCity-Zug zwischen Zürich und der norditalienischen Metropole Mailand braucht neu noch 3 Stunden und 17 Minuten.

Das ist flott, aber doch noch weit entfernt von den Versprechungen, welche der Bundesrat 1992 bei der Referendumsabstimmung zur Neat machte. Im damaligen Abstimmungsbüchlein hiess es: «Die Neat verschafft uns Zugang zum europäischen Verkehrsnetz von morgen. Von Zürich aus werden Mailand in gut 2 Stunden, Paris und Frankfurt in 3 Stunden, London und Rom in knapp 5 1/2 Stunden erreichbar sein.»

Dank des Tunnels wird das Tessin enger zusammenrücken

Tatsache ist indes, dass der Ceneri-Basistunnel dank eines zusätzlichen Anschlussgleises nach Locarno eine wichtige Aufgabe für den Tessiner Nahverkehr auf der Schiene erfüllen wird. Die Fahrzeit zwischen Lugano und Locarno in der S-Bahn Tilo halbiert sich auf 30 Minuten.

Zwischen Bellinzona und Lugano werden es nur noch 15 Minuten sein, allerdings erst ab 5. April 2021, wenn der neue Fahrplan voll umgesetzt wird. Der Verkehrsexperte Remigio Ratti sagt:

Erste Effekte haben sich schon bemerkbar gemacht. Vor allem das Bellinzonese hat an Attraktivität gewonnen und einen Immobilienboom sowie einen Bevölkerungszuwachs verzeichnet.

Der nördliche und südliche Teil des Tessins werden näher zusammenrücken. Und damit zwei Teile, welche verschiedene Mentalitäten verkörpern und einst unter Napoleon im Jahr 1803 zwangsweise zusammengefügt worden waren: die eher alpine Mentalität im Norden; die eher urbane und Richtung Italien ausgerichtete Mentalität im Süden. Im Eishockey verkörpern die Vereine von Lugano und Ambrì diese Gegensätze. Der Ceneri, 554 Meter hoch, ist das Symbol der Trennung.

Eine der grossen Hoffnungen ist, dass der Ceneri-Basistunnel mit der S-Bahn Tilo dermassen attraktiv ist, dass die Tessiner auf die Bahn umsteigen und das Auto in der Garage lassen. Das tägliche Verkehrschaos lässt grüssen. Ob es zum grossen Umsteigen kommt, wird sich weisen. Denn das Auto gehört zur lateinischen Mentalität und der ÖV ist keineswegs in Fleisch und Blut übergegangen. «Gegenüber der Deutschschweiz sind wir schon etwas im Rückstand», räumt Martino Colombo, Chef des kantonalen Amtes für Mobilität, ein. Doch er hofft gleichwohl auf die ÖV-Revolution und sieht positive Signale, etwa den Passagierzuwachs in der S-Bahn in den letzten Jahren.

Allerdings wohnen nicht alle Tessiner in der Nähe einer Tilo-Haltestelle. Der Kanton hat zwar ein gigantisches Investitionsprogramm für die Stärkung des Nahverkehrs – vor allem der Busanbindungen – im Hinterland aufgegleist, 460 Millionen Franken für die kommenden vier Jahre, allerdings kaum neue Park & Ride Parkplätze gebaut.

Die Schattenseiten eines grossen Bauwerks

Der Ceneri-Basistunnel wird auf alle Fälle das neue Rückgrat des öffentlichen Verkehrs im Tessin sein. Wie jedes grosse Bauwerk hat auch der Ceneri seine Schattenseiten. Zwei Mineure starben 2010 und 2015 bei Unfällen. «Das waren menschlich die schwierigsten Momente», räumt Dieter Schwank, Geschäftsführer der Bauherrin, in der Eröffnungsbroschüre ein. Der tödliche Unfall von 2010, bei dem ein kalabrischer Bergarbeiter starb, hatte ein langes gerichtliches Nachspiel bis vor das Bundesgericht.

Die Vorgesetzten wurden vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Die Familie hat das Verdikt bis heute nicht akzeptiert. Die Einladung zur Teilnahme an der Einweihung des Tunnels hat sie abgelehnt.

Mineure feiern vor vier Jahren den Hauptdurchschlag.

Mineure feiern vor vier Jahren den Hauptdurchschlag.

© Keystone (21. Januar 2016

Im Raum stehen zudem immer noch Vorwürfe über allfällige Unregelmässigkeiten beim Einbau der Bahntechnik durch italienische Baufirmen. Die Gewerkschaften hatten 2019 einen Fall von mutmasslichem Lohndumping und übermässig langen Schichten der Tunnelarbeiter bekannt gemacht. Die Staatsanwaltschaft leitete eine Untersuchung ein. Ergebnis unbekannt. Die Ermittlungsbehörde will zum laufenden Verfahren nicht informieren.

Geschwindigkeiten bis zu 250 km/h: Der Basistunnel in Zahlen

Der Ceneri-Basistunnel führt von Camorino bei Bellinzona nach Vezia bei Lugano. Mit einer Länge von 15,4 Kilometern ist der Tunnel nach dem Gotthard- (56 km) und dem Lötschberg-Basistunnel (34,6 km) der dritte und drittlängste Tunnel der Neuen Alpentransversalen (Neat). Aus Sicherheitsgründen wurden, wie schon beim Gotthard, auch beim Ceneri zwei Einspurröhren gebaut, was die Kosten massiv ansteigen liess. Diese liegen 40 Meter auseinander und sind alle 325 Meter durch 48 Querschläge miteinander verbunden. Die Überdeckung mit Gebirge in der Ceneri-Zone beträgt maximal 800 Meter. Das Aushubmaterial erreichte 7,9 Millionen Tonnen. 900 Kilometer Kupferkabel, 10 500 Kilometer Glasfaser und 66,6 Kilometer Gleise wurden verlegt.

Die erlaubte Maximalgeschwindigkeit im Tunnel beträgt 250 Stundenkilometer. Aufgrund seiner Länge sind keine Spurwechsel oder Multifunktionsstellen nötig. Dank einer Weiche im Tunnel ist der Anschluss an die «Bretella Locarno–Lugano» garantiert. Das Südportal ist so gestaltet, dass eine Weiterführung der Neat bis zur Landesgrenze nach Italien möglich wäre. Allfällige Projekte schlummern im Moment allerdings noch in den Schubladen der Behörden. (gl)