
Der ehemalige Bobfahrer, der Banker war und jetzt den Knast leitet
Vor drei Monaten ist Florian Willisegger ins Gefängnis gegangen. Aus freien Stücken. Er hat den Vizedirektoren-Posten bei der Hypothekarbank Lenzburg mit einem Spitzenjob im Strafvollzug getauscht. Seit Anfang Juni leitet Willisegger das Zentralgefängnis in Lenzburg.
Auch wenn die Neuorientierung auf den ersten Blick den Anschein nach einem harten Schnitt macht, gibt es doch Parallelen zur bisherigen beruflichen Tätigkeit in der Bankenwelt, in der Willisegger zuvor vierzehn Jahre lang gearbeitet hat.
Auch dort hätten die Sicherheitsvorkehrungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen, erzählt er. Dass die meisten Türen im Innern des Gebäudes entsperrt werden müssen, wenn man sie passieren will, sei nichts Ungewöhnliches. Ebenso habe er als Stabsoffizier der Schweizer Armee keine Mühe mit den klaren Strukturen, die ein Gefängnisbetrieb mit sich bringe.
Wo hat sich der berufliche Alltag für den 36-Jährigen am meisten verändert? Willisegger muss nicht lange überlegen. «Früher standen Zahlen im Zentrum meiner Arbeit, jetzt sind es Menschen und ihre Schicksale beziehungsweise ihre Taten.» Dabei stelle er fest, dass die Öffentlichkeit nicht selten ein falsches Bild des Strafvollzuges habe. «Allein der Entzug der Freiheit stellt für einen Menschen eine massive Einschränkung dar. Zudem ist die Untersuchungshaft das härteste Regime, das es gibt. Der Gefangene wird von einem Moment auf den andern aus seinem Lebensumfeld herausgerissen und sitzt während 23 Stunden hinter verschlossenen Türen.»
Dabei wolle er keinesfalls eine Tat verharmlosen, betont Willisegger. «Es sind Menschen, die für ihre Taten, die sie begangen haben, geradestehen müssen.» Über diese Verfehlung zu richten, sei jedoch Sache der Strafjustiz und nicht des Strafvollzugs.
Über tausend Ein- und Austritte pro Jahr
Während des Gesprächs führt Florian Willisegger die Besucher durch die langen Gänge mit schweren Zellentüren, grüsst da und dort Mitarbeitende. Für Willisegger ist klar: Wer im Strafvollzug arbeitet, muss ausserordentlich belastbar sein und ein ebenso hohes Mass an Sozialkompetenz mitbringen.
«Die Vollzugsangestellten bekommen den Frust der Gefangenen zuerst zu spüren. Sie müssen rasch und der Situation entsprechend reagieren.» Ungewohntem schnell und flexibel begegnen, ist sich Florian Willisegger als ehemaliger Bobfahrer und Mitglied des Nationalkaders gewohnt. Auch dass die Arbeitstage weniger planbar sind als früher, nimmt er sportlich. Das sei Teil der neuen Herausforderung und mache die Aufgabe spannend, sagt er.
2011 wurde das Zentralgefängnis eröffnet. Bereits sechs Jahre später wurde ein Erweiterungsbau in Betrieb genommen. Heute bietet es 167 Plätze für Untersuchungshaft, Halbgefangenschaft sowie Kurzstrafen für Jugendliche, Frauen und Männer.
«Pro Jahr haben wir jeweils rund 1200 Ein- und Austritte von Strafgefangenen», erklärt Willisegger. Manche würden auch nur eine Nacht im Zentralgefängnis verbringen. «Dies zur Verhinderung weiterer Straftaten. Häufig passiert dies bei grösseren Festanlässen mit vielen Besuchern.»
Beitrag zur Sicherheit des Landes leisten
Der Eindruck eines hartgesottenen Vollzugsbeamten, den Florian Willisegger im Gespräch macht, gerät rasch ins Wanken, wenn die Rede auf Frauen mit Kindern in Gefangenschaft kommt. «Als ich das erste Mal die Mutter-Kind-Zelle gesehen habe, in der ein Babybett steht, habe ich schon etwas leer geschluckt», gesteht der Vater von zwei kleinen Kindern.
Einige der einst grauen Gefängnismauern sind heute mit grossflächigen Kunstwerken farbig gestaltet. Auch aus Florian Williseggers zweckmässig eingerichtetem Büro soll in den nächsten Wochen das Grau an den Wänden weisser und grüner Farbe Platz machen. Hier erzählt er, weshalb er, der eigentlich gar keine neue Stelle gesucht hatte, die Herausforderung im Zentralgefängnis jedoch annahm, als sich ihm die Chance bot.
«Mir ist es wichtig, dass wir in der Schweiz Sicherheit und Stabilität auch in Zukunft aufrechterhalten können.» Die Heirat und die Geburt der Kinder hätten diese Überzeugung noch verstärkt. Mit der Leitung des Zentralgefängnisses könne er nun seinen Beitrag zur Erreichung dieses hehren Ziels leisten.