
Der EU-Vertrag vor dem Ende: Sieben Szenarien, wie es weitergehen könnte
Seit Jahren wird es totgesagt. Und heute wird es wohl tatsächlich schicklich beerdigt. Der Bundesrat berät in diesen Stunden, wie es mit dem Rahmenabkommen weitergehen soll. Alle Zeichen stehen auf Abbruch der Verhandlungen. Jedoch: Die EU bleibt der wichtigste Handelspartner der Schweiz – eng verflochten dank eines dichten Geflechts an bilateralen Verträgen. Wie geht es weiter mit den Beziehungen zwischen Bern und Brüssel? Sieben Szenarien.
Stabilex: Goodwill zeigen
Seit Wochen brütet der Bundesrat über einem möglichen Plan B. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat die Idee eines Projektes «Stabilex» eingebracht. Die Idee dahinter: Die Schweiz soll ihre Gesetze in politisch unumstrittenen Bereichen so weit wie möglich der EU anpassen, damit sie die Angriffsfläche für weitere Nadelstiche aus Brüssel reduziert. Zudem soll die bislang zurückgehaltene Kohäsionsmilliarde an die EU freigegeben werden. Geplant sind offenbar auch unproblematische Anpassungen beim Lohnschutz und andere innenpolitische Reform.
Interimsabkommen: Die Scherben kitten
Er war Chefunterhändler der Bilateralen II und gehörte zur Verhandlungsdelegation der Bilateralen I: Der frühere Staatssekretär Michael Ambühl weiss Bescheid über die Mechanik zwischen Brüssel und Bern. Im November 2019 lancierte er in einem NZZ-Gastbeitrag angesichts des unbefriedigenden Vertragsentwurfs die Idee eines Interimsabkommens: Die beiden Seiten vereinbaren, dass die bestehenden Verträge aufdatiert werden, die Schweiz aber vorläufig auf den Abschluss neuer Marktzugangsabkommen verzichtet. Um ihren guten Willen zu bekräftigen, stockt die Schweiz ihren Kohäsionsbeitrag substanziell auf. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth, aber auch FDP-Präsidentin Petra Gössi, zeigten sich in der Vergangenheit offen für ein Interimsabkommen. SP-Nationalrat Eric Nussbaumer gibt aber zu bedenken: «Wir können nicht darauf zählen, dass die 27 EU-Staaten mir nichts dir nichts die Wünsche der Schweiz erfüllen.» Tatsächlich zeigte man in Brüssel bislang kein Interesse an einer solchen Interimslösung.
Status quo: Weiter wie bisher
Ein Scheitern des Rahmenabkommens wäre «ein grosser Sieg für die SVP», sagt Fraktionschef Thomas Aeschi. Die SVP fordere keinen Plan B, kein modernisiertes Freihandelsabkommen, sondern schlicht die Weiterführung des Status quo. Doch was tun, wenn die Bilateralen langsam an Wert verlieren, weil die EU die einzelnen Abkommen nicht aktualisiert? Die EU-Staaten erklärten schon seit 2008 mehrmals offiziell, der bilaterale Weg habe seine Grenzen erreicht. Zuletzt hielten sie 2019 fest, dass die Unterzeichnung des Rahmenvertrags «Voraussetzung für den Abschluss künftiger Abkommen» und «wichtiger Aspekt» beim Marktzugang sei. Dazu Aeschi:
«Die Schweiz muss auf die Einhaltung der Verträge und die Aktualisierung im gegenseitigen Einvernehmen pochen.»
Es gehe nicht, dass die EU, die sich Rechtsstaatlichkeit auf die Fahne geschrieben habe, das Recht des Stärkeren walten lasse und die Schweiz zu einem für sie nachteiligen Abkommen nötige. Die Baselbieter Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter, führende Aussenpolitikerin bei «Die Mitte», erwartet derweil vom Bundesrat, dass er Alternativen aufzeigt, damit die bestehenden Bilateralen nicht schleichend wegbrechen. Für die Wirtschaft sei es essenziell, dass im Europadossier bald Rechtssicherheit herrsche.
Rahmenabkommen: Volk soll übernehmen
Die GLP steht vorbehaltlos hinter dem Rahmenvertrag. Für Präsident Jürg Grossen ist klar: Sollte ihn der Bundesrat nach den langwierigen Verhandlungen einseitig versenken, müsste das Parlament das Ruder in die Hand nehmen. Ultima Ratio wäre eine Volksinitiative. Mit dem Dossier vertraute Experten warnen aber vor einer Abstimmung über den Rahmenvertrag mit absehbarem Nein: Dies bedeute für Brüssel eine grössere Ohrfeige als ein Nein des Bundesrats. Die Vergangenheit lehrt zudem: Nach dem Nein zum EWR dauerte es sieben Jahre, bis die Bilateralen I ausgehandelt waren. Grossen erwartet vom Bundesrat in erster Linie, dass er von sich aus europapolitische Alternativen skizziert.
Freihandelsabkommen: Vorbild Kanada
«Ist der Status Quo nicht mehr möglich, sollte die Schweiz mittelfristig ein umfassendes Handelsabkommen im Stil des Kanada-Deals mit der EU abschliessen.» Das findet Hans-Jörg Bertschi, Unternehmer und Mitbegründer des Komitees für ein besseres Rahmenabkommen «Autonomiesuisse».
«Ein modernisiertes, umfassendes Handelsabkommen inklusive gegenseitiger Personenfreizügigkeit wäre einer Teilintegration in die EU vorzuziehen»,
sagt Bertschi. In seiner Analyse des Brexit-Freihandelsdeals hält das Aussendepartement jedoch fest, der bilaterale Weg gehe weit über den Freihandelsansatz hinaus und verschaffe der Schweiz «weitgehend hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt». Auch ein umfassendes Freihandelsabkommen würde einen «klaren Rückschritt zu den bilateralen Abkommen bedeuten». Beobachter weisen darauf hin, dass bei einer Modernisierung des Freihandelsabkommen von 1972 die EU auch auf einer Öffnung der Schweizer Landwirtschaft und einer Anpassung der staatlichen Subventionspraxis bestehen dürfte. Ob das die Schweiz wirklich will?
EWR 2.0: Der EuGH würde wegfallen
Verhilft ein Nein zum Rahmenabkommen einer alte Idee zu einer neuen Chance? Carl Baudenbacher, langjähriger Gerichtspräsident bei der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta), spricht sich für einen EWR-Beitritt aus. Zusammen mit den Efta-Ländern Norwegen, Island und Liechtenstein und unter Einbezug Grossbritanniens könnte die Schweiz ein Gegengewicht zur EU bilden. Baudenbacher schätzt, dass man sich auch politische Mitbestimmungsrechte gegenüber Brüssel ausbedingen könnte. Der grosse Unterschied zum Rahmenvertrag: Statt dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wäre in erster Linie der Efta-Gerichtshof zuständig. Allerdings müsste die Schweiz auch im EWR dynamisch EU-Recht übernehmen. Und zwar nicht nur in den definierten Bereichen wie beim Rahmenabkommen, sondern über den ganzen Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten hinweg.
«Mit dem EWR würden wir einen grösseren Integrationsschritt machen als mit dem Rahmenabkommen»,
so Europarechtlerin Christa Tobler. Ihrer Ansicht nach wäre es trotzdem ein «Befreiungsschlag»: Die institutionellen Fragen wären gelöst und die Schweiz erhielte noch mehr Wirtschaftsintegration. Eine Neuauflage des EWR-Beitritts brachte jüngst auch SP-Co-Präsident Cédric Wermuth wieder ins Spiel.
EU-Beitritt: Flucht nach vorn
SP-Co-Chef kokettiert mit dieser Idee: Auch ein EU-Beitritt dürfe kein Tabu sein. Dennoch scheint dies nach wie vor ein aussichtsloses Unterfangen. In einer aktuellen Umfrage sprechen sich bloss 13 Prozent für den Beitritt aus.