
«Der schönste Beruf der Welt»: Welche Bilanz ziehen Pflegefachpersonen und was wünschen sie sich?
«Und was brauche ich, um gesund zu bleiben?»
Ich bin guter Dinge, dass wir Corona in den Griff bekommen, vor allem jetzt, da die Impfung kommt. Aber noch sind wir nicht ganz über dem Berg. Wir haben auf der Intensivstation immer jüngere Leute. Dazu kommt, dass viele Patientinnen und Patienten gereizter sind als vor Pandemiebeginn. Oftmals bekommen wir Pflegfachpersonen dies mit voller Wucht ab. Verstehen Sie mich nicht falsch. Viele sind sehr dankbar und zeigen Wertschätzung. Doch einige haben den Anspruch, dass wir sie wieder heil machen, ohne dass da ein grosses Dankeschön käme.
Ich würde nicht sagen, dass die Belastung nun höher ist als früher, es gab Zeiten, die vom Pensum her viel strenger waren. Vor allem bei der ersten Welle wussten wir teilweise gar nicht mehr, wie weiter. Die Belastung heute ist jedoch eine andere: Wir müssen den Patienten Sicherheit vermitteln, obwohl wir selbst im Ungewissen stecken. Hinzu kommt, dass durch das Verbot von diversen Freizeitaktivitäten auch der Ausgleich zum teilweise herausfordernden und strengen Alltag fehlt.
Der schönste Beruf der Welt
Vor einem Jahr haben die Leute für uns geklatscht, doch was ist seither passiert? Nichts. Schon wieder nichts. Dabei verspricht die Politik seit Jahrzehnten, dass sie sich unserer Forderungen annehmen. Es herrscht eine grosse, allgemeine Unzufriedenheit. Ich spüre das ständig. Davon bleibe ich natürlich nicht unberührt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Pflege ist für mich der schönste Beruf auf der Welt. Ich bin stolz, dass wir so gute Arbeit leisten. Und ich möchte weitermachen. Verstehen Sie? Ich will nicht aussteigen. Aber wir brauchen Unterstützung. Viele ältere Berufskolleginnen werden bald pensioniert, über die Hälfte der Leute steigt frühzeitig aus. Das heisst für mich: Ich werde immer mehr leisten müssen, mit immer weniger Unterstützung. Der Druck auf mich selbst steigt dadurch noch mehr. Und ich frage mich: Schaffe ich das dann noch? Wenn ich nachts alleine 40 Patienten betreue? Wird mir ein Fehler unterlaufen? Kann ich das noch verantworten? Wird ein Patient deshalb Komplikationen erleiden?
Deshalb habe ich, gerade während Corona, noch intensiver gelernt, auf mich zu achten. Und ich schaue gut zu mir: Ich habe mich gefragt, was ich brauche, um gesund zu bleiben: Es sind vor allem die Natur und enge Freunde. Wenn ich frei habe, sage ich mir jetzt oft: Ich putze nicht auch noch die Fenster. Ich gehe jetzt zuerst mal hinaus und geniesse das Leben-

«Corona alleine ist nicht das Problem»
Wissen Sie, was mich nervt? Wenn ich in den Medien lese, dass Corona die Arbeitsbelastung ansteigen lässt. Ja, teilweise stimmt das, gerade jetzt, weil zu den Coronafällen noch die ganz normalen Notfälle dazukommen, vor allem hier, auf der Notfallstation. Doch was im Gesundheitswesen abgeht, kann man nicht pauschal auf Corona abschieben. Es droht nicht wegen Corona alles auseinanderzubrechen – mit Personalmangel hatten wir schon vor dieser Krise zu kämpfen, und werden das auch nachher noch tun. Die Krise zeigt nun einfach deutlicher, was schiefläuft. Auch wenn die Gesellschaft sensibilisierter ist: Wir müssen mehr leisten, als viele wissen. Und die Frustration in der Berufsgruppe steigt.
Ich stecke noch mitten in der Ausbildung und ich weiss nicht mal mehr, wie lange ich noch im Beruf bleibe. Das ist doch verrückt. Ich liebe diesen Beruf, sonst hätte ich ihn nicht gewählt. Doch was mir fehlt, ist die Unterstützung. Mit der Freude am Beruf allein ist es nicht getan. Wir brauchen am Ende des Monats mehr Geld und ein besseres Gefühl, wenn wir nach Hause gehen. Ich gehe oft mit schlechtem Gefühl nach Hause, musste teilweise Menschen stundenlang liegenlassen, konnte ihnen nicht die beste Therapie und Betreuung geben, die ich könnte, weil die Zeit nicht reicht, die Ressourcen knapp sind. Ich würde länger zuhören wollen, auf die Ängste der Menschen eingehen, vor allem auf der Notfallstation. Gerade hier müssten wir doch die Leute auffangen können! Doch ich muss dann Prioritäten setzen. Dann fallen die nicht lebensnotwendigen Massnahmen, die emotional für den Patienten aber wichtig wären, unter den Tisch.
«Ich will mich nicht damit abfinden»
Dabei ist die Pflege in meinen Augen die Visitenkarte jeder Institution. Mit der Pflege hat man als Patientin und als Patient am meisten Kontakt. Hier merkt man den Unterschied. Man müsste schauen, dass der Beruf mit dem Privatleben und einer Familie vereinbar ist. Und der Lohn müsste höher sein, um all den Weiterbildungen auch gerecht zu werden, die wir doch mittlerweile absolvieren. Die Ansprüche an uns sind gestiegen. Pflege ist schon lange kein Assistenzberuf mehr, wir müssen viel Fachwissen mitbringen, sind eigenständiger, übernehmen viel Verantwortung. Ich bin überzeugt: Würde man das stärker anerkennen und entlöhnen, würden sich auch mehr Menschen für den Beruf entscheiden.
Viele Kolleginnen und Kollegen, die länger im Beruf sind, Jahrzehnte schon, haben sich mit dem Status quo abgefunden. Sie sagen uns: Findet euch damit ab, es ändert sich sowieso nichts. Daran glaube ich nicht. Ich hoffe noch immer. Ich fände es schön, zu bleiben. Dieser Beruf hat auch viele Vorteile: Du hast so viel Abwechslung, du kannst mit Menschen zusammen sein, du kannst etwas bewegen, den Menschen helfen. Es ginge gar nicht bloss um das Salär, wir sind auch bereit, einiges einzustecken. Aber gehört werden, endlich mal. Und sehen, dass sich jemand dafür einsetzt, dass sich unsere Situation bessert.

«Alte Menschen haben Angst vor der Isolation»
Ich stehe morgens um 6.15 Uhr auf, beginne um 7 Uhr mit der Pflege; Begleitung am Morgen, Gespräche am Nachmittag, und dann geht’s weiter bis 22 Uhr. Ich habe im Monat zwei, drei Tage frei, hatte seit über einem Jahr keine Ferientage mehr. Ich bin freiberuflich tätig, seit einem Jahrzehnt, mit Schwerpunkt Palliative Care. Seit Corona ist die Situation angespannter, es kommen viel mehr Anfragen. Auch, weil die Patientinnen und Patienten nicht mehr ins Altersheim wollen, weil sie Angst haben, eingesperrt zu sein. Ich betreue derzeit rund 14 Menschen. Ich möchte mir Zeit nehmen, eine Beziehung aufbauen. Vor allem auch, wenn die Menschen dement sind. Die Menschen brauchen eine Konstante, nicht ständig wechselndes Personal.
Viele alte Menschen leben sehr isoliert
Es geht nicht nur um die Pflege, es geht auch um psychologische Unterstützung, um die täglichen Dinge des Alltags, ums Einkaufen. Manchmal kaufe ich für drei Leute gleichzeitig ein, Dinge des täglichen Bedarfs, Butter, Brot. Die Angehörigen haben Angst vor einer Ansteckung der Schwerkranken, viele verwehren den Kontakt. Die alten Menschen leben isoliert in ihren Wohnungen, einige sind geimpft, andere wollen nicht, weil sie sagen: Was spielt das jetzt noch für eine Rolle, ich verlasse das Haus doch sowieso nicht mehr. Die Pflegeleistungen werden von der Krankenkasse übernommen, alles andere nicht. Das mache ich dann eben umsonst, auf meine Zeit und auf meine Kosten. Was soll ich denn? Die Leute vor die Hunde gehen lassen? Heute habe ich einen Wasserhahn entkalkt, es spritzte auf alle Seiten heraus. Die Patientin hat niemanden mehr, der ihr hilft. Viele alte Menschen haben keine Angst vor der Krankheit, sondern vor dem eintönigen Alltag, der Isolation. Das zehrt an ihrer Lebensenergie.
Ich liebe meine Arbeit, und es geht mir gesundheitlich gut, aber ich muss schauen, dass es wieder ein bisschen ruhiger zu und her geht. Ich muss aufpassen. Auch für meine Familie. Für meinen Mann, meine Kinder, meine Enkelkinder. Ich bräuchte mehr Hilfe. Mehr Menschen, die den Mut haben, freiberuflich zu arbeiten oder eine flexiblere Spitex. Es bräuchte viel mehr Austausch zwischen den Institutionen, anstatt dass alle ihre eigenen Gärtchen pflegen. In so einer Krise muss man flexibler sein, neue Wege gehen. Und vielleicht auch mal Dinge tun, die sonst nicht unter Pflege fallen.
Hinschmeissen würde ich trotzdem nicht. Wenn ich A sage, muss ich auch B sagen. Ich mache den Beruf gerne. Ich kenne so viele Leute, habe so viel Erfahrung. Ich möchte die Leute nicht im Stich lassen.