Deutliches Ja zur «Ehe für alle»: Uni-Spital Basel geht davon aus, dass es jährlich rund 100 lesbische Paare mit Kinderwunsch behandeln wird

Das Ja zur Ehe für alle zeichnete sich schnell ab. Das Schweizer Stimmvolk hat am Sonntag mit die «Ehe für alle» mit 64,1 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen. Eine entsprechende gelöste und freudige Stimmung herrschte auf der Grossen Schanze neben der Universität Bern, wo sich die Befürwortinnen und Befürworter in grosser Zahl versammelten. «Das ist ein historischer Tag», Michel Rudin, Co-Präsident des Schwulenverbandes Pink Cross. «Das Ja ist ein grosses Signal, dass unsere Partnerschaften gleichwertig sind, und der Schutz unserer Kinder gewährleistet ist», sagte Maria von Känel, Geschäftsleiterin des Dachverbandes Regenbogenfamilien. Einige Abstimmungssieger zogen, beflaggt mit Regenbogenfahnen, jubelnd durch die Stadt Bern.

Im Hotel Kreuz in Bern nahmen die Gegnerinnen und Gegner das Ergebnis gefasst zur Kenntnis. «Wir sind aus der Defensive gestartet. Es war schwierig, das Ruder herumzureissen», sagte Anian Liebrand, Leiter der nationalen Nein-Kampagne. Die Gegner würden weiter gehende Forderungen wie die Leihmutterschaft bekämpfen. «Es ist bloss eine Frage der Zeit, bis dieses auf das politische Parkett kommt», sagt Liebrand.

Der Grund für die Freude: Homosexuelle Paare erhalten damit mehr Rechte. Die Befürworter versammelten sich Ausländische Partnerinnen und Partner können sich erleichtert einbürgern lassen, homosexuelle Paare dürfen gemeinschaftlich ein Kind adoptieren und lesbische Paare erhalten Zugang zur Samenspende. Was bedeutet das konkret? 10 Fragen und 10 Antworten.

1. Wie gross ist der Kinderwunsch bei homosexuellen Paaren?

Einen Hinweis gibt eine Umfrage des Dachverbandes Regenbogenfamilien Schweiz, an der 884 Personen teilgenommen haben. 54 Prozent der Teilnehmer, die noch keine Familie hatten, möchten eine gründen. 40 Prozent davon möchten den Kinderwunsch mittels Samenspende erfüllen, 24 Prozent durch eine Adoption. Andere Varianten wie die Leihmutterschaft (8 Prozent) stehen im Hintergrund. Laut einer Untersuchung aus Deutschland besteht eine gleichgeschlechtliche Familie überwiegend aus zwei Müttern. Obwohl sich auch bei homosexuellen Männern ein Kinderwunsch beobachten lasse, werde dieser seltener realisiert.

2. Gibt es jetzt einen Ansturm von lesbischen Paaren auf Samenbanken?

In der Schweiz gibt es 8 Kliniken, die Paaren bei Unfruchtbarkeit mittels Samenspende helfen, Eltern zu werden. Professor Christian De Geyter, Chefarzt für Reproduktionsmedizin am Universitätsspital Basel, berichtet, dass sich wöchentlich mehrere lesbische Paare nach einer Samenspende erkundigen. Er geht davon aus, dass das Universitätsspital Basel pro Jahr etwa 100 lesbische Paare mit Kinderwunsch behandeln wird. Über das Interesse zeigt sich De Geyer überhaupt nicht überrascht: «Es bahnt sich schon seit Jahren an.»

Peter Fehr, Facharzt für Gynäkologie am Kinderwunschzentrum OVA IFV in Zürich, rechnet damit, dass er und sein Team jährlich rund 30 lesbische Paare betreuen werden. Schon seit Jahren würden sich lesbische Frauen ans Kinderwunschzentrum wenden – und sich auch informieren, welche Möglichkeiten im Ausland offenstünden. Fehr geht davon aus, dass es nach dem Ja zur «Ehe für alle» genug Samenspender gibt. Aufgrund der Abstimmungskampagne hätten sich viele Interessierte gemeldet.

Die Klinik Fertisuisse in Olten hat bis jetzt jährlich etwa 20 bis 30 lesbische Frauen beraten, die nachher für eine Samenspende ins Ausland fuhren. Ärztin und Fertisuisse-Gründerin Anna Raggi kann sich vorstellen, dass sie in ihrer Klinik nach der Zustimmung zur «Ehe für alle» mehr lesbische Frauen behandeln wird. Sie vermutet jedoch, dass sich weiterhin einige Frauen ins Ausland begeben werden. Dort dürfen sie teilweise – anders als in der Schweiz – den Samenspender selber auswählen.

3. Wie viele lesbische Frauen erfüllen ihren Kinderwunsch pro Jahr mittels Samenspende im Ausland?

Forscherinnen der Universität Bern konnten dokumentieren, dass im Jahr 2019 zehn lesbische Frauen zwecks Samenspende ins Ausland gereist sind, wobei die Spender nicht immer bekannt waren. Die Forscherinnen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, da viele Frauen Spermien entweder im Internet bestellten oder private Arrangements eingingen und die Insemination selbst durchführen. Diese sogenannte «Becher»-Methode birgt jedoch gesundheitliche Risiken. Zudem ist das Recht der Kinder auf Kenntnis der Abstammung nicht garantiert. De Geyter begrüsst das neue Gesetz: «Es ist dringend an der Zeit, dass die juristische Lage der Realität angepasst wird.»

4. Wer kommt als Samenspender in Frage?

Spender müssen, so schreibt es das Gesetz vor, aus medizinischen Gesichtspunkten sorgfältig ausgewählt werden. Faktisch kommen gesunde Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren mit guter Spermienqualität in Frage. «Oft haben sie selber keine Kinder», sagt Peter Fehr. Der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin achtet bei der Auswahl der Samenzellen auf äussere Ähnlichkeiten (Augenfarbe, Haarfarbe) mit dem rechtlichen Vater. Die Eltern ihrerseits haben in der Schweiz nicht das Recht, quasi wie in einem Katalog den Spender zu wählen – anders als im Ausland, zum Beispiel in Dänemark.

5. Könnten sich theoretisch aufgrund der Samenspende wegen Nichtwissens Halbgeschwister heiraten?

Die Frage stellt sich unabhängig davon, ob auch lesbische Paare Zugang zur Samenspende erhalten. Ausschliessen lässt sich eine Heirat unter Halbgeschwistern nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist insofern gering, als maximal acht Kinder vom gleichen Samenspender gezeugt werden dürfen. Zudem haben Kinder ab dem 18. Lebensjahr das Recht, die Identität des Samenspenders zu erfahren. Anonyme Samenspenden sind seit 2001 verboten. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass viele Eltern ihren Kindern die Samenspende verschweigen. Seit Ende 2019 haben Samenspenderkinder die Möglichkeit, sich nach ihrem Erzeuger zu erkundigen. Bis jetzt haben das nur zwei junge Erwachsene getan. Seit 2001 sind in der Schweiz 4234 Kinder auf die Welt gekommen, die mittels Samenspenden von 777 Männern gezeugt wurden.

6. Erkundigen sich viele homosexuelle Paare nach der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Adoption?

CH Media hat nachgefragt bei Adoptionsvermittlungsstellen, die auf einer Liste des Bundesamtes für Justiz (BJ) figurieren. Ein Büro aus Genf, das Adoptivkinder aus den Philippinen und Thailand vermittelt, hat bis jetzt gar keine Anfragen von homosexuellen Paaren erhalten. Eine Vermittlungsstelle im Kanton Tessin, tätig seit 2008, hat seither 3 Anfragen von homosexuellen Paaren registriert, in jüngster Vergangenheit aber «keine einzige». Das Interesse scheint sich also in Grenzen zu halten. Karin Meierhofer, Geschäftsleiterin des Vereins PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz, der einzigen vom BJ akkreditieren Vermittlungsstelle für Inlandsadoptionen in der deutschen Schweiz, schätzt, dass sich 2021 rund 10 homosexuelle Einzelpersonen oder Paare danach erkundigt haben, wie ein Adoptionsverfahren ablaufe.

Zudem sind bei PACH geringfügig mehr Anfragen für Teilnahmen an Informationsveranstaltungen und Vorbereitungskursen eingegangen. PACH weist immer alle Interessierten – unabhängig von der sexuellen Orientierung – darauf hin, dass die Chancen zur Adoption eines in der deutschen Schweiz geborenen Kindes gering sind. Bei PACH sind derzeit 58 adoptionswillige Eltern respektive Einzelpersonen registriert. Zwischen 2016 und 2020 konnte PACH jährlich zwischen 8 bis 15 Kinder aus der Schweiz für Adoptiveltern vermitteln.

7. Wie viele Kinder werden in der Schweiz pro Jahr adoptiert?

Im letzten Jahr wurden 432 Kinder adoptiert. Bei den allermeisten Fällen (325) handelte es sich um eine Stiefkindadoption. Diese steht seit 2018 auch homosexuellen Paaren offen. Laut einer Broschüre des Bundesamtes für Justiz werden – ohne Stiefkindadoption – in der Schweiz einige Dutzend Kinder aus dem Ausland und rund 20 in der Schweiz geborene Kinder adoptiert. Viele Personen möchten mittels Adoption eine Familie gründen. Gleichzeitig sinkt weltweit die Zahl der Kinder, die einer Adoption bedürfen. Diese Rahmenbedingungen schlagen sich in der Statistik nieder: 1980 adoptierten 684 Ehepaare in der Schweiz ein Kind, im letzten Jahr waren es noch 68.

8. Wie entwickeln sich Kinder von gleichgeschlechtlichen Eltern?

Die Gegner der «Ehe für alle» verwiesen in ihrem Argumentarium auf Studien, gemäss denen Kinder mit homosexuellen Eltern stärker unter emotionalen Problemen, Depressionen und Ängsten litten als Kinder mit Mutter und Vater. Yv Nay, Soziologe mit Spezialgebiet Regenbogenfamilie, stellt an diesen Untersuchungen diverse methodische Mängel fest. Er sagt, Studien zeigten durchgängig, «dass bei Kindern mit gleichgeschlechtlichen Eltern im Vergleich zu Kindern aus heterosexuellen Beziehungen keine Unterschiede hinsichtlich ihrer psychischen und sozialen Persönlichkeitsentwicklung, ihrer schulischen und beruflichen Laufbahn, ihrer Freundschaften und sexuellen Beziehungen oder ihres Umgangs mit der geschlechtlichen Identifizierung und Körperlichkeit bestehen».

Für das Kindeswohl ist demnach nicht die sexuelle Orientierung der Eltern entscheidend, sondern die Beziehungsqualität und das Klima in der Familie. Der deutsche Sozialwissenschaftler Christian Sagert schreibt in einer Fallstudie zur Vaterschaft in Regenbogenfamilien: «Homosexuelle Eltern legen in der Regel mehr Wert auf ihr Erziehungsverhalten, da sie sich bewusst sind, unter besonderer Beobachtung zu stehen.»

Kinder in Regenbogenfamilien profitierten zudem von vergleichsweise gebildeteren und ökonomisch bessergestellten Eltern.

9. Kommt jetzt die Leihmutterschaft?

Die Gegner der «Ehe für alle» sprechen von «Salamitaktik» und befürchten das. Die Jungfreisinnigen haben sich in einem Positionspapier dafür ausgesprochen. Die Leihmutterschaft ist in der Schweiz jedoch auf Verfassungsebene verboten. Es bräuchte eine Volksabstimmung mit Ständemehr, um das zu ändern. Der Bundesrat spricht sich dagegen aus, weil die Würde der Leihmutter und des werdenden Kindes sowohl bei bezahlter als auch bei unbezahlter Leihmutterschaft nur schwerlich gewährleistet werden könne.

In der Realität lassen dennoch bereits heute Schweizer Paare im Ausland mit Hilfe einer Leihmutter ein Kind austragen. Gemäss einem Gutachten der Universität Bern wurden bis im Oktober 2020 bei den Schweizer Behörden 42 Kinder gemeldet, die 2019 durch Leihmutterschaft geboren wurden. Bei 26 davon waren die Eltern ein heterosexuelles Paar. Eine Anerkennung beider Partner als Eltern eines Kinds aus einer Leihmutterschaft ist für gleich- und verschiedengeschlechtliche Paare schon heute möglich. Allerdings ist das mit grossem Aufwand verbunden. Justizministerin Karin Keller-Sutter lehnt die Leihmutterschaft ab, wie sie an der Medienkonferenz in Bern sagte. «Ich sehe keinen Spielraum. Es stellen sich schwierige ethische Fragen.» Es bestehe etwa die Gefahr, dass Frauen ausgebeutet würden.

10. Kommt bald die Eizellenspende?

Das Thema ist politisch lanciert. GLP-Nationalrätin Katja Christ reichte im Frühjahr einen Vorstoss ein, um die in der Schweiz weiterhin verbotene Methode zu legalisieren. Gemäss einer Studie ist die Eizellenspende das Verfahren, welches Schweizer Paare am häufigsten im Ausland in Anspruch nehmen. 2015 sprach sich der Bundesrat grundsätzlich für eine Aufhebung des Verbots der Eizellenspende aus. So weit wollte der Ständerat nicht gehen. Aber er verlangte von der Landesregierung zu prüfen, wie im Abstammungsrecht der Tatsache Rechnung getragen werden könne, «dass in der Schweiz verbotene Reproduktionsmethoden zunehmend im Ausland in Anspruch genommen werden».