
Die 10. Zofinger Literaturtage fanden einen energiegeladenen Abschluss
So bescheiden sie in ihrem Auftreten sind, so leidenschaftlich drängend ist ihr Anspruch an ihr Schaffen. Die Lesungen von Frédéric Pajak und Noëlle Revaz vom Sonntag zeugen von enormer Hingabe. Zwischen den Zeilen lauert ein Zorn auf eine Welt, die fragmentiert geworden ist und sich nur noch in glänzenden Oberflächen spiegelt.
Frédéric Pajak schreibt und zeichnet an nichts weniger als an einem Manifest, das sich gegen jegliche Ideologie richtet und die eigene Ungewissheit zum Programm macht. «Ich habe ein Buch realisieren wollen, das sich unablässig fortsetzt und nie endet», erklärt der Träger des Schweizerischen Literaturpreises 2015 der Moderatorin Ruth Gantert und dem Publikum an diesem Sonntagmorgen im Hotel Zofingen. 9 Bände und rund 2000 Seiten sollen es nun werden. «Ungewisses Manifest, Band 3» ist das jüngste bereits ins Deutsche übersetzte Buch und widmet sich dem Tod des jüdisch-deutschen Denkers Walter Benjamins und dem Dichter Ezra Pound. Ruth Gantert verweist auf den Umschlag des Bandes, den eine Zeichnung ziert, die marionettenhaft verdrehte Funktionäre und Ideologen über einem Abgrund zeigt.
Unauslöschliche Bildtexte
Frédéric Pajak setzt in seinem Buch bei seiner eigenen Verlegenheit an, die er «wegzulächeln» versucht. Als «Überlebender einer behaglichen Welt», der «mit armseligen Ideen und falschen Gefühlen aufgewachsen ist», misstraut er seinem eigenen Urteil. Umso behutsamer folgt er Walter Benjamin 1939 nach Marseille, wo sich dieser vor der Gestapo versteckt und nach Möglichkeiten sucht, in die USA zu überschiffen. Er begleitet den Herzkranken auf beschwerlichen Wegen über die Pyrenäen bis hin zu dessen Selbstmord. Die Texte sind geS schliffen und einprägsam, die Tuschezeichnungen evozieren eine stetig latente Bedrohung und zeigen eine Welt, die Benjamin ausstösst. Es ist, als würde man immer wieder durch die Augen dieses Gelehrten sehen, während die Texte sehr nüchtern äusserliche Vorkommnisse schildern. Bohrend und zweifelnd schreibt Pajak nur in Bezug auf sich selbst.
Neun bis zehn Monate schreibe er jeweils an einem Band, meist unterwegs, im Zug oder in Cafés, erklärt der Autor und Zeichner dem Publikum. Zwei Monate lang zeichne er im Anschluss die Bilder dazu. Er versenke sich dabei in einen geradezu hypnotischen Zustand und gehe dabei völlig intuitiv vor. Was entsteht, ist ein unauslöschliches Leseerlebnis, Bilder und Texte beziehen sich traumwandlerisch und auf unterschiedlichsten Ebenen zueinander. Mit dem herkömmlichen illustrativen Verhältnis von Bild und Kommentar bricht Pajak.
Das Buch als Möbel
Was wäre, wenn der lärmige Literaturbetrieb das Buch vollkommen ersetzt hätte? Genau dies geschieht in der Dystopie «Das unendliche Buch» von Noëlle Revaz, deren Auftritt Bettina Spoerri moderiert. Bücher sind nurmehr dekorative Möbelstücke, niemand käme es noch in den Sinn, darin zu blättern. Literaturkritik ist passé, schreiende Präsentationen in endlosen Fernsehsendungen herrschen vor. «Sie stellen den Literaturbetrieb mit Ironie, oft gar zynisch dar. Aus welchen persönlichen Erfahrungen schöpfen Sie?», fragt Bettina Spoerri ihren Gast. «Es ist gewiss alles übertrieben», erläutert Noëlle Revaz. «Dass ich so viel über diese Oberflächlichkeit zu sagen habe, hat mich überrascht.» Tatsächlich ist es eine Lust, wie das erzählerische Ich den Literaturbetrieb ebenso bissig wie finessenreich durch den Kakao zieht. Die Protagonistinnen sind die zwei Autorinnen Genna Fortuni und Joanna Fortaggi. Ein Buch hat weder die eine noch die andere je geschrieben, sie geben den Preziosen lediglich ihre Namen.
Böses Erwachen
Als der Verlag auf die Idee kommt, die beiden leicht zu verwechselnden Autorinnen zu einer Joeanna Fortunaggi zu fusionieren, setzt ein Prozess bei den beiden ein, der sie schliesslich dazu bringt selbst ein Buch zu schreiben. Die bissige Science-Fiction-Satire auf den Literaturbetrieb ist sehr beredt und beobachtet die Banalitäten eines Marketings ohne Inhalt mit fast schon schneidender Schärfe. Wie Noëlle Revaz erzählt, habe sie ein Besuch bei einem Grafiker dazu animiert, der nicht lese. Das einzige Buch, das sie dort gesehen habe, habe das Regal bloss dekoriert.
Die Literaturtage enden mit einem Podium, das das Verhältnis von Literatur zur Virtualität ausleuchtet, ein Fussballspiel zwischen der Schriftsellernationalmmannschaft und den Aargauer Grossräten rundet das Wochenende ab. Im nächsten Jahr ist Georgien zu Gast in Zofingen. Das Land bringt nicht nur eine eigene Sprache, sondern auch ein eigenes Alphabet mit.
