
Die etwas andere Party in der Disco Flösserplatz: «Wir brauchen keine Türsteher»
Keiner ist fehlerfrei! Was ist denn schon dabei? Auf Biegen und Brechen wir feiern die Schwächen!» Helene Fischers Lied «Fehlerfrei» dröhnt aus den Lautsprechern des Flösserplatzes in Aarau. Der 16-jährige Thimo tanzt auf dem Dancefloor und scheint, genauso wie es Fischer propagiert, seine Schwächen zu feiern.
Thimo hat das Down-Syndrom und war an der Party am letzten Freitag nicht der Einzige mit einer «Schwäche». Vielmehr waren er und die anderen Besucher Menschen voller Stärken.
Wenn die meisten Partygänger um 19 Uhr noch nicht einmal wissen, was K sie anziehen wollen, geschweige denn, wie die Pläne für die Nacht aussehen, tanzen im Flösserplatz bereits die Ersten. Bei der Disco-Mania-Party fängt die Fete früh an und endet um 23 Uhr – dann, wenn die anderen Clubs die Türen öffnen. Zielpublikum der Feier sind Menschen mit Behinderungen, die in den Ausgang wollen, ohne komische Blicke ertragen zu müssen.
Im Aargau gibt es die Partyreihe seit rund acht Jahren, ins Leben gerufen von Mary-Claude von Arx. Von Arx war damals Vorstandsmitglied der Organisation Insieme Aarau-Lenzburg, die sich für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen einsetzt. Jetzt ist die 58-Jährige Präsidentin des Vereins. «Damals gab es keine vergleichbaren Angebote in der Schweiz, aber das Bedürfnis war gross», sagt sie zur dieser Zeitung.
Von Arx hat zwei Kinder, eines mit einer Lernschwäche, das andere mit einer kognitiven Beeinträchtigung – auch sie hätten sich mehr Ausgang gewünscht. Von Arx erfüllte den Wunsch: Die erste Party für Menschen mit Behinderungen fand im Jugendraum Metropol in der Telli statt. Den Moment, als von Arx sah, wie viele Leute an der Tür Schlange standen, werde sie nie vergessen: «Es kamen 60-jährige Männer und Frauen, die nie die Möglichkeiten hatten, Feiern zu gehen. Das hat mich traurig gestimmt, aber ich war auch wütend», sagt von Arx heute. Die Party damals war ein voller Erfolg. Mit der Zeit wurde der Andrang immer grösser und der Jugendraum zu klein. Man expandierte in den Flösserplatz.
Am Freitagabend steht dort Erich vor dem Eingang. Erich ist 40 Jahre alt und extra aus dem Berner Oberland angereist. Von Arx hat neue T-Shirts für alle freiwilligen Helfer verteilt; Erich ist stolz und betrachtet sich glücklich. An den Disco-Mania Partys helfen Menschen ohne und Menschen mit Beeinträchtigungen mit. Sie sind an der Bar, der Garderobe, der Kasse oder als DJs tätig.
15 Minuten für einen Drink
Erich ist für die Bedienung des Rollstuhl-Lifts zuständig. Er lächelt geschmeichelt, als man ihn fragt, warum er denn nicht der Türsteher sei. Der 40-Jährige stemmt demonstrativ die Arme in die Hüften. Erichs Mutter nimmt von den Besuchern Geld für den Eintritt entgegen: Fünf Franken plus zwei Franken für die Garderobe. Ein tiefer Preis, normalerweise kosten Partys im Flösserplatz mehr als zehn Franken. «Die Menschen beziehen grösstenteils Invalidenrente», sagt Insieme-Präsidentin von Arx. «Da kann man keinen hohen Preis verlangen.»
Die Partys werden vom Verein finanziert, der Kanton unterstützt sie nicht. Von Arx meint, dass man den Preis anpassen könnte. Menschen, die keine IV beziehen, könnten mehr zahlen. Aber das wolle sie nicht: «Wir sind schliesslich eine Party; wir fragen doch nicht nach dem IV-Ausweis», sagt sie kopfschüttelnd.
Die meiste Zeit verbringt von Arx im Garderobenbereich, koordiniert den Ablauf der Party, verteilt Hotdogs an die Helfer und erzählt vom Geschehen an der Bar. «Luca hat vorhin einen Long Island Ice Tea gemischt. Er hat eine Viertelstunde gebraucht.»
Vor der Lancierung der ersten Party stand die Frage im Raum, ob man Alkohol überhaupt ausschenken dürfe. «Die Meinungen waren zweigeteilt», sagt von Arx. «Einige hatten Bedenken, weil viele der Partygäste Medikamente nehmen.» Schlussendlich habe sie sich durchsetzen können: «Die Besucher sind erwachsene Personen, auch wenn sie beeinträchtigt sind. Und auf das Alter der Gäste achtet das Barpersonal.» Überhaupt solle die Party nicht von anderen Feiern zu unterscheiden sein – bis auf die Dauer und das Fehlen von Stroboskoplichtern, die epileptische Anfälle auslösen können.
Das ideale Ziel sei es, dass auch Menschen ohne Behinderung die Party besuchen – was bisher aber nicht der Fall sei. «Es kommt keiner, der nichts mit dem Format zu tun hat», so von Arx. Das sei schade, aber nachvollziehbar: «Wer geht schon um sieben Uhr auf eine Party?»
Eine PET-Flasche als Mikrofon
Leandro zum Beispiel. Der 15-Jährige begleitet seine Schwester, die unter einem Geburtsschaden leidet. Betreuer nehmen ihre Klienten mit zur Party, Eltern ihre Kinder, und auf der Tanzfläche vermischt sich die Menge. Mit Behinderung oder ohne Behinderung spielt keine Rolle mehr.
Bei Gottlieb Wendehals’ «Polonäse» wird ein Mädchen im Rollstuhl durch den Club gefahren, bei «Macarena» zeigen die Betreuer, wie der Tanz funktioniert; immer wird lauthals mitgesungen. Ein Junge improvisiert mit einer PET-Flasche als Mikrofon, ob er den Text richtig singt, interessiert ihn wenig. Und wenn ein älterer Herr eine junge Frau zum Tanzen auffordert, will er tatsächlich nur tanzen.
«Wir brauchen hier keine Türsteher oder Security», sagt Mary-Claude von Arx. «Wir erheben auch keinen Pfand – es ist selbstverständlich, dass die Becher und Flaschen wieder ihren Weg zurückfinden.»
Anscheinend haben Menschen mit Beeinträchtigungen ein besseres Verständnis für Manieren als jene ohne. «Nicht, weil sie etwa besser erzogen wurden», stellt von Arx klar. «Sie waren einfach nie anderen Einflüssen exponiert.» Und Spass haben würde sowieso jeder, führt sie aus. Während manch ein Partygänger ohne Beeinträchtigung aus Angst, sich zu blamieren, lieber an der Bar stehen bleibt, als zu tanzen, stürzen sich im Flösserplatz alle in die Party. «Diese Menschen müssen nicht high oder betrunken sein, um den Abend zu geniessen.», sagt von Arx.
VON NORA GÜDEMANN (TEXT) UND MARIO FUCHS (FOTOS)