
«Die Konzernverantwortungs-Initiative wird die Welt nicht verändern, aber sie ist ein Schritt in die richtige Richtung»
Nichts ärgert die Initianten mehr, als in die linke Ecke gedrängt zu werden. Eine ihrer Hauptbotschaften im Abstimmungskampf lautet: Unser Anliegen kommt aus der Mitte der Gesellschaft, ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes, eine Selbstverständlichkeit. Die Unterstützung durch linke Wähler? Geschenkt.
Auf Plakaten werben deshalb bürgerliche Politiker und Unternehmer für die Konzernverantwortungsinitiative. Wie auch im 40-minütigen Kampagnenfilm. Die Bettelbriefe, die in regelmässigen Abständen in die Haushalte flattern, signiert Dick Marty. Der Tessiner Co-Präsident des Initiativkomitees ist das Aushängeschild in der Öffentlichkeit. Er hat eine wertvolle Eigenschaft: Marty ist Mitglied der FDP.
Er ist seit Jahrzehnten eine öffentliche Figur. Als Staatsanwalt, Staatsrat und Ständerat. Ausgezeichnet vom US-Justizministerium wegen seiner Verdienste im Kampf gegen die Drogenmafia. Gefürchtet vom gleichen Land, weil er als Sonderberichterstatter für den Europarat geheime CIA-Gefängnisse in Osteuropa aufgedeckt hatte. Persona non grata im Kosovo, wegen seiner bis heute nicht bewiesenen Anschuldigungen, die damalige UCK-Führung sei in den illegalen Organhandel verwickelt gewesen.
Marty steht oft im Schaufenster. Persönliches ist aber wenig bekannt. Bis sechsjährig war er fast blind, nur dank Augentraining verbesserte sich seine Sehkraft. Als Kind einer welschen und protestantischen Familie blieb er im Tessin immer ein wenig Aussenseiter: «Das Leben in der Diaspora gibt einem Kraft», sagte er vor Jahren.
Der 75-Jährige spricht nicht gerne über sich, lieber über die Sache. Small Talk? Unvorstellbar. Während er in den 1990er-Jahren in der Tessiner Regierung sass, versuchte ihm seine Partei beizubringen, dass auch ein Staatsrat ab und zu lächeln sollte.
Marty rechnet mit wenig Klagen, Wirtschaft fürchte etwas anderes
Derzeit ist Marty fokussiert auf die Konzernverantwortungsinitiative: Sie verlangt das Schweizer Konzerne für Verstösse gegen Menschenrechte und Umweltstandards ihrer Tochterfirmen oder wirtschaftlich kontrollierten Lieferanten im Ausland haften. Bundesrätin Karin Keller-Sutter nennt die Initiative «anmassend», weil die Schweiz ihr Recht auch international durchsetzen würde.
«Der Vorwurf des Neokolonialismus ist grotesk», schimpft Marty. Er könne es nicht fassen, dass eine Bundesrätin so etwas sage. Er nimmt seine Parteikollegin direkt ins Visier, als ob sie seine wichtigste Gegenspielerin sei. Er spricht über den Zuger Rohstoffgiganten Glencore, der im Kongo die Behörden ausgeschaltet habe und ein «Staat im Staat» sei. «Wir zwingen die kongolesische Bevölkerung zu nichts.
Aber wir geben ihr die Möglichkeit, in der Schweiz eine Zivilklage einzureichen.» Die Initiative als eine Art Hilfe vor Ort, das würden die bürgerlichen doch immer fordern, wenn es um die Migration gehe. Der Staat habe keine Rolle, kein Staatsanwalt ermittle.
«Ein Richter an einem Schreibtisch in der Schweiz wird über die Beweise urteilen, die Kläger und Beklagter vorlegen.» Kann ein Regionalgericht das tun? «Ja», sagt Marty. Handelsrichter in Zürich, Genf, Lugano oder Basel müssten heute schon oft ausländische Sachverhalten beurteilen.
Die Wirtschaft warnt vor einer Klageflut. Marty winkt ab: «Klagen werden sehr selten sein. Denn das Opfer müsse den Beweis erbringen, das ein Schaden und ein widerrechtliches Verhalten des Unternehmens vorliege und dass ein Kausalzusammenhang besteht.» Zudem gehe es nur um Schäden, die durch Verletzungen der Menschenrechte oder international anerkannter Umweltstandards verursacht wurden.
Also besonders besorgniserregenden Fälle. Und die Prozesshürden seien hoch: «Die Zivilkläger müssen die Gerichtskosten vorausbezahlen: Nur in ganz grossen Fällen werden die NGO dieses Prozessrisiko übernehmen», sagt Marty. Machen die Initianten also zu grosse Versprechen? «Die Unternehmen werden die Haftungsrisiken einkalkulieren», sagt Marty. Sprich, er erhofft sich eine disziplinierende Wirkung. «Die Initiative wird die Welt nicht verändern, aber sie ist ein Schritt in die richtige Richtung.»
Das Feindbild der bösen Konzerne
Marty hat seine eigene Interpretation, weshalb sich die Wirtschaftsverbände derart stark wehren. Nicht die Klagen machten ihnen Angst: «Die Konzerne sind nervös, weil sie spüren, dass die Zivilgesellschaft die vielen Freiräume der Konzerne nicht mehr akzeptiert.»
Er zeichnet das Bild der bösen Konzerne, ohne Verbindung zum Territorium, mit Managern, welche die Landessprachen nicht mehr sprechen. Konzerne, die mit den Nationalstaaten spielten und ihren Steuersatz praktisch selbst bestimmen. So gesehen geht es in dieser Millionenschlacht weniger um eine Haftungsbestimmung als viel mehr um eine Machtprobe.
Marty mag die grossen Fragen. 1975 wurde er Tessiner Staatsanwalt. In dieser Tätigkeit interessierten ihn nicht die Drogendealer, sondern die Drogenbarone, nicht die Kleinkriminellen, sondern die Hintermänner. Landesweit bekannt wurde er, als er in den 1980er-Jahren die Libanon-Connection sprengte, einen internationalen Drogen- und Geldwäschereiring – und damit indirekt zum Rücktritt der ersten Schweizer Bundesrätin, Elisabeth Kopp (FDP) beitrug.
Altersmilde? Nein, die Empörung macht lebendig
Das Thema der Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Dick Marty. «Kohärent» sei deshalb sein Engagement für die Initiative, die er seit den Anfängen unterstützt. Bereits 2011 lancierte eine Koalition von Nichtregierungsorganisationen, Hilfswerken und kirchlichen Kreisen die Petition «Recht ohne Grenzen».
Weil sich politisch nichts bewegte, wurde später die Volksinitiative lanciert. «Die Wirtschaftsverbände haben gehofft, dass uns irgendwann die Luft ausgeht. Doch das Gegenteil ist passiert: Unsere Bewegung wurde immer stärker», resümiert Marty. 2011 sprach Marty davon, ein Exempel zu statuieren: «Wir sollten als gutes Beispiel vorangehen.»Im internationalen Umfeld hat sich inzwischen einiges getan, Frankreich hat eine Haftungsregelung eingeführt, die aber weniger weit geht, als jene, welche die Initiative verlangt.
In Grossbritannien hat das Verfassungsgericht eine Zivilklage gegen den Konzern Vedanta wegen Luftverschmutzungen in Sambia zugelassen. In der Sache wurde der Fall noch nicht entschieden, offen ist also, wie weit die Verantwortung von Konzernen geht.
Trotzdem sagt Marty: «Es stimmt nicht, dass wir mit der Initiative etwas Neues machen.» Es wäre ihm aber auch egal: «Warum sollten wir die letzten sein? Zum Glück waren wir die ersten und haben das IKRK gegründet.»
Altersmilde kennt Marty nicht. Im Gegenteil: «Wenn ich über Ungerechtigkeiten nicht mehr entrüstet bin, werde ich mich nicht mehr lebendig fühlen.»