Die Schweiz, die EU und das Rahmenabkommen – eine unendliche Geschichte: Das müssen Sie darüber wissen

Seit bald zwei Jahren liegt ein unterschriftsreifer Text vor – aber die Geschichte des Rahmenabkommens der Schweiz mit der EU ist noch viel älter. Was viele nicht mehr wissen: Ursprünglich ist es eine Schweizer Idee.

18. März 2002: Vor 15 Jahren tauchte die Idee in einem Bericht der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats unter dem Stichwort «Assoziation» erstmals auf: Damit sei «eine institutionelle Lösung gemeint, welche es erlaubt, alle bilateralen Abkommen unter dem Dach eines Rahmenabkommens zu bündeln».

5. Oktober 2005: In einem Postulat bittet der damalige Thurgauer CVP-Ständerat Philipp Stähelin den Bundesrat, «einen Bericht zu erstellen über den Stellenwert eines Rahmenvertrags zwischen der Schweiz und der EU». Der Bundesrat empfiehlt den Vorstoss zur Annahme, der Ständerat folgt ihm.

2006: Das Rahmenabkommen erscheint als mögliche Variante im Europa-Bericht des Bundesrats.

Juni 2008: Das Parlament beschliesst gegen den Willen des Bundesrates, im Rahmen der Legislaturplanung folgende Forderung zu integrieren: Der Bundesrat soll «Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen aufnehmen».

Dezember 2008: Nun erwähnt auch die EU in ihren Schlussfolgerungen zu den Beziehungen mit der Schweiz erstmals die Wünschbarkeit eines Rahmenabkommens. Es wird zur Bedingung für den Abschluss neuer Abkommen für den Marktzugang.

18. August 2010: Eine informelle Arbeitsgruppe erörtert die institutionelle Regelung mit der EU-Kommission. Der Schweizer Chefunterhändler Yves Rossier und sein Gegenüber David O’Sullivan spuren eine Lösung vor, die für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine wichtige Rolle bei der Streitschlichtung vorsieht.

Frühling 2012: Die parlamentarischen Kommissionen sprechen sich gegen eine neue nationale oder supranationale unabhängige Überwachungsbehörde für die Einhaltung der bilateralen Abkommen aus. Die Forderung wird vom Bundesrat für die Verhandlungen übernommen. Deshalb ist das Andocken an die Efta-Institutionen für die Lösung von Streitfällen für die Schweiz keine Option.

Ende 2012: 20 Jahre nach dem Nein zum EWR beschwört Aussenminister Didier Burkhalter den bilateralen Weg – sonst sei die nationale Kohäsion gefährdet.

Ende 2013: Der Bundesrat verabschiedet das Verhandlungsmandat mit der EU. Darin definiert er seine «roten Linien»: eine dynamische, aber keine automatische Rechtsübernahme, keine neue Überwachungsbehörde. Bezüglich der Auslegung von EU-Recht und der Streitschlichtung bleiben die Kompetenzen der Gemischten Ausschüsse und des Bundesgerichts gewahrt. Die Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat sowie die Kantone stellen sich hinter das Mandat.

9. Februar 2014: Die EU legt nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative (MEI) alle Verhandlungen zu bilateralen Abkommen auf Eis.

22. Mai 2014: Die Schweizer Unterhändler setzen sich mit ihren Kollegen aus Brüssel erstmals offiziell an den Verhandlungstisch, um das institutionelle Rahmenabkommen zu verhandeln.

Dezember 2016: Das Parlament setzt die MEI mit einem Arbeitslosenvorrang um, der das Freizügigkeitsabkommen nicht verletzt. Das Parlament hofft, dass damit die EU keinen Hebel mehr hat, um Druck auf ein Rahmenabkommen zu machen. Die Hoffnung schwindet bald. Die EU setzt die Aktualisierung bestehender Abkommen aus, etwa zu den technischen Handelshemmnissen.

April 2017: Bundespräsidentin Doris Leuthard verkündet nach einem Treffen mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Deblockade aller Dossiers.

1. November 2017: Der neu gewählte FDP-Bundesrat Ignazio Cassis übernimmt das Aussendepartement von seinem zurücktretenden Parteikollegen Didier Burkhalter. Er hatte vor der Wahl angekündigt, er wolle als Bundesrat in der EU-Politik den «Reset-Knopf» drücken».

23. November 2017: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagt vor den Medien in Bern, die Verhandlungen über das Rahmenabkommen sollten im Frühling 2018 abgeschlossen sein. Die Schweiz widerspricht einen Tag später.

18. Dezember 2017: Die EU anerkennt die Schweizer Börsenregulierung nur noch befristet für ein Jahr als gleichwertig. Diese zeitliche Begrenzung der Börsenäquivalenz sei die Folge von «aktuell nicht genügend substanziellem Fortschritt» beim Rahmenabkommen. Die damalige Bundespräsidentin Doris Leuthard spricht von einer «klaren Diskriminierung der Schweiz».

31. Januar 2018:  Der Bundesrat wechselt den Chefunterhändler aus: Roberto Balzaretti ist neu anstelle von Pascale Baeriswyl zuständig für die Verhandlungen mit der EU.

2. März 2018: Der Bundesrat akzeptiert bei der Streitbeilegung ein Schiedsgericht. Damit scheint ein Knackpunkt gelöst.

12. Juni 2018: Aussenminister Cassis sagt gegenüber Radio SRF am Rande eines Anlasses, die Schweiz und die EU müssten bei den flankierenden Massnahmen «kreative Wege» finden. Die Gewerkschaften reagieren empört: Die roten Linien, welcher der Bundesrat unter anderem beim Lohnschutz festgelegt hatte, dürften nicht überschritten werden.

4. Juli 2018: Der Bundesrat bekräftigt, dass er nicht an den flankierenden Massnahmen rütteln will. Gleichzeitig beschliesst er, die Sozialpartner über die Auslegung der roten Linien zu konsultieren.

August 2018: Das Wirtschaftsdepartement lädt die Sozialpartner zu Gesprächen ein. Die Gewerkschaften schlagen die Einladung aus. Sie werfen insbesondere den FDP-Bundesräten Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann vor, den Lohnschutz aushebeln zu wollen.

7. Dezember 2018: Der Bundesrat nimmt das Verhandlungsergebnis «zur Kenntnis», lässt aber offen, ob er es für gut befindet oder nicht. Er kündigt eine öffentliche Konsultation an. Diese zeigt später: Drei Elemente sind nicht mehrheitsfähig: Lohnschutz, staatliche Beihilfen und die Unionsbürgerrichtlinie. Die SVP lehnt das Abkommen ganz ab; SP und CVP zeigen sich kritisch; die FDP sagt «Ja aus Vernunft», fordert aber ebenfalls Konkretisierungen.

Mai 2019: Der Bundesrat setzt auf eine Zwei-Phasen-Strategie, wie bekannt wird: Er will zuerst die Begrenzungs-Initiative der SVP an der Urne bodigen und erst danach das Rahmenabkommen diskutieren. Die Strategie geht zurück auf Justizministerin Karin Keller-Sutter.

07. Juni 2019: Der Bundesrat verlangt Klärungen in drei umstrittenen Punkten: Lohnschutz, staatliche Beihilfen und Unionsbürgerrichtlinie. Diese Haltung teilt er EU-Kommissionspräsident Juncker in einem Brief mit. Drei Arbeitsgruppen suchen Lösungen für die Streitpunkte mit der EU beim Rahmenabkommen.

11. Juni 2019: Juncker antwortet postwendend auf den Brief aus Bern: Er zeigt sich offen, mit der Schweiz über Präzisierungen zu diskutieren, drängt aber auf eine Lösung innert weniger Tage. Neuverhandlungen schliesst er aus.

18. Juni 2019: Die EU-Kommission verlängert wegen «mangelndem Fortschritt» beim Rahmenabkommen die Anerkennung der Börsenäquivalenz nicht.

1. Dezember 2019: Die deutsche Ursula von der Leyen wird neue EU-Kommissionspräsidentin. Anders als ihr Vorgänger Juncker hat sie keine spezielle Beziehung zur Schweiz und widmet dem Dossier nur wenig Aufmerksamkeit.

27. September 2020: Das Stimmvolk lehnt die SVP-Begrenzungsinitiative ab, die auf das Ende der Personenfreizügigkeit zielte. Damit rückt das Rahmenabkommen erneut in den Fokus.

14. Oktober 2020: Der Bundesrat ernennt eine neue Chefunterhändlerin: Livia Leu übernimmt den Posten von Roberto Balzaretti. Dieser hatte den Entwurf ausgehandelt, diesen auch öffentlich angepriesen und galt daher als falscher Mann für die weiteren Gespräche mit Brüssel. Seit Anfang 2016 waren es fünf Spitzendiplomaten, die das EU-Dossier verantwortet haben.

Und wie geht es weiter?: Gefragt ist nun der Bundesrat. Er muss in diesem Dossier über das weitere Vorgehen entscheiden, und möglicherweise tut er dies schon heute Mittwoch. Die Landesregierung muss erklären, ob sie das Abkommen wirklich will und wie die Blockade mit Brüssel gelöst werden soll. Sie müsste aber auch darlegen, welche Konsequenzen eine Absage an – oder durch – die EU hätte.