
Die Unberechenbarkeit der Roth-Nachfolge – Analyse zum Wahlkampf-Auftakt
Das Ende der Sommerferien ist gleichzeitig der Startschuss in einen heissen Wahlherbst. Diese Woche steht im Zeichen der ausserordentlichen Parteitage. Morgen die SP, am Mittwoch die FDP und am Donnerstag die SVP. Ausserordentlich ist die Ausgangslage in der Tat. Neben den National- und Ständeratswahlen wird das Aargauer Stimmvolk kurzfristig am 20. Oktober aufgerufen, eine Nachfolge für Franziska Roth(ehemals SVP) zu wählen. Die Regierungsrätin und Vorsteherin des Departements Gesundheit und Soziales (DGS) ist vorzeitig zurückgetreten.
Laufen die bevorstehenden Parteitage normal, stehen Ende Woche zwei Männer und drei Frauen an der Startlinie: Severin Lüscher (Grüne), Jean-Pierre Gallati (SVP), Yvonne Feri (SP), Doris Aebi (Grünliberale) und Jeanine Glarner (FDP); ihr interner und noch weitgehend unbekannter Gegenkandidat Gérald Strub wird sich bei den FDP-Delegierten kaum durchsetzen.
Eine erste Auslegeordnung zeigt: Diese Regierungsratswahl wird so unberechenbar wie selten eine zuvor. Schauen wir zuerst auf mögliche Stärken und Schwächen der Kandidierenden, allein was ihre Wahlchancen betrifft.
Yvonne Feri: Erfahrung mit Regierungsratswahlen
SP-Nationalrätin Feri weiss, wie Regierungsratswahlkampf geht. 2016 unterlag sie zwar gegen Franziska Roth im zweiten Wahlgang. Im ersten machte sie aber fast gleich viele Stimmen wie die SVP-Kandidatin. Ihr Linksaussen-Image hat Feri mittlerweile abgelegt. Schon bei der letzten Wahl holte die Sozialpolitikerin beachtlich viele Mitte-Stimmen, gerade in der CVP-Basis. Auch Bekanntheit und Geschlecht helfen Feri bei dieser Wahl.
Ihr Handicap: Sie hat nicht nur Freunde im linken Lager. Vor allem in Gewerkschaftskreisen und teils bei den Grünen löst sie wenig Begeisterung aus. Diese Stimmen braucht Feri aber, um im bürgerlich dominierten Aargau im zweiten Wahlgang eine Chance zu haben.
Severin Lüscher: Der Ärztebonus allein reicht kaum
Der grüne Grossrat brächte als Hausarzt die Fachkompetenz fürs Gesundheitsdepartement mit und wird von Politikerkollegen über die Parteigrenzen hinweg geschätzt. Lüscher ist indes noch wenig bekannt und weit weg vom Potenzial einer Susanne Hochuli, die mit ihrer Wahl in die Regierung 2008 einen Coup landete. Ein weiterer Nachteil: Linksgrüne Wähler, die keine reine Männerregierung möchten, können nicht mit gutem Gewissen Lüscher auf den Wahlzettel schreiben.
Doris Aebi: Noch vieles und für viele unbekannt
Die Grünliberale besetzt das Vakuum in der Mitte, da CVP, BDP und EVP auf eine eigene Kandidatin verzichten. Wenn Doris Aebi im Wahlkampf überzeugt und die grüne Welle perfekt nimmt, könnte sie im ersten Wahlgang für eine Überraschung sorgen.
Ob dazu die Zeit reicht? Aebi gehört zwar zu den bekanntesten Headhuntern des Landes, aber im Aargau ist die früher bei der SP Solothurn politisierende Wirtschaftsfrau den wenigsten ein Begriff. Zudem überlegen es sich parteiungebundene Wähler doppelt, ob sie nach dem gescheiterten Experiment Roth nochmals auf jemanden ausserhalb des klassischen Politbetriebs setzen. Aebi versucht deshalb gleich von Beginn weg, das Etikett der Quereinsteigerin loszuwerden.
Jeanine Glarner: zweite Wahl mit Potenzial nach ganz vorn
Sie ist erst 35, bringt aber nach sieben Jahren als Grossrätin schon eine beachtliche Portion Erfahrung mit. Als Frau vom rechten FDP-Flügel hat sie eigentlich ein ideales Profil, um für diese Einervakanz-Wahl viele bürgerliche Stimmen zu holen. Ein Starthandicap ist dagegen der Beigeschmack, FDP-intern nicht erste Wahl gewesen zu sein. Fraktionschefin Sabina Freiermuth und Gesundheitspolitikerin Martina Sigg haben beide mit einer Kandidatur geliebäugelt, dann aus unterschiedlichen Gründen verzichtet.
Jean-Pierre Gallati: rechnerisch mit den besten Karten
Der SVP-Fraktionschef ist der erfahrenste Kantonalpolitiker im Kandidatenfeld und kennt die DGS-Dossiers und deren Fallgruben bestens. Gallatis grösster Trumpf ist aber das Wählerpotenzial seiner SVP, der mit Abstand grössten Partei im Aargau.
Ob er diese Stimmen alle abholt, ist eine andere Sache. Gallati ist zwar nicht ein Hardliner vom Schlag eines Andreas Glarner, mit seiner Kompromisslosigkeit schont der Wohler Rechtsanwalt aber nicht mal Parteifreunde. Auch dass er Franziska Roth eiskalt fallen liess, könnten ihm einige SVP-Wähler übel nehmen.
Der 20. Oktober: Nach der Wahl ist vor der Wahl
Was passiert nun am Wahlsonntag? Eines scheint klar: Gewonnen hat am 20. Oktober noch niemand. Dazu bräuchte es das absolute Mehr, also über 50 Prozent aller Stimmen. Spielen wir ein naheliegendes Szenario durch. Gallati holt zwischen 25 und 30 Prozent der Stimmen, schöpft also einen Grossteil des SVP-Potenzials aus, wenn auch nicht das ganze. Feri (SP) und Glarner (FDP) erreichen zwischen 20 und 25 Prozent mit teilweiser Unterstützung aus der Mitte. Lüscher und Aebi machen je zwischen 10 und 15 Prozent, abhängig davon, wie viele Wähler der kandidatenlosen Parteien CVP, BDP und EVP sie überzeugen.
Entscheidend ist, was vor dem zweiten Wahlgang vom 24. November passiert. Ziehen die jeweils schwächeren Kandidaten rechts und links zurück, um einen Sieg des politischen Gegners zu verhindern? Verzichtet also der Grüne Lüscher zugunsten von SP-Frau Feri, wenn sie erwartungsgemäss klar mehr Stimmen als er macht im ersten Wahlgang? Zählt sich Aebi im Zweifelsfall zu Linksgrün und verzichtet ebenfalls? Dann hat Feri plötzlich ein Stimmenpotenzial von 40 bis 50 Prozent und Siegeschancen. Dann wird sich zeigen, ob die etwas voreilig angekündigte Klimaallianz wirklich spielt. Das Gleiche gilt umgekehrt, wenn zur Überraschung aller Lüscher oder Aebi im ersten Wahlgang ähnlich gut abschneiden wie die SP-Kandidatin. Ob die SP dann die Grösse hätte, Feri aus dem Rennen zu nehmen?