
«Diktatur!»: SVP-Gesundheitsdirektoren haben genug vom Mantra ihrer Partei
Am 12. Februar, vor fast einem Monat, fiel das Wort zum ersten Mal.
Die Schweiz, eine Diktatur!
Es war SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher, die die Polemik in einem Interview lancierte. Seither hat diese nicht mehr aufgehört. Zuletzt sprach Martullo am Montagabend im Nationalrat von Diktatur, und es ist anzunehmen, dass sie die Vorwürfe morgen im SRF in der Talk-Sendung «Gredig live» wiederholen wird. Auch ihr Vater Christoph Blocher, Nationalrat Roger Köppel, Parteipräsident Marco Chiesa und Fraktionschef Thomas Aeschi verwendeten das D-Wort, immer und immer wieder.
Diese Endlosschlaufe nervt inzwischen auch linientreue SVPler, vor allem solche, die in einer Exekutive selber Verantwortung tragen. Bundespräsident und Wirtschaftsminister Guy Parmelin höchstselbst tadelte seine Partei in einem Interview mit der «Schweiz am Wochenende». Er betonte, hierzulande sei das Volk der Chef, darum sei der Diktatur-Vorwurf trotz grosser Bundesratskompetenzen abwegig. Er wurde von der Jungen SVP zum «halben SVP-Bundesrat» geschrumpft.
Widerstand aus der Nordwestschweiz
Jetzt doppeln mehrere Exekutivpolitiker aus Kantonsregierungen nach. Besonders deutlich tat der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati, eigentlich ein SVP-Hardliner. «Wenn wir in einer Diktatur leben würden, hätte Magdalena Martullo diese Aussage gar nicht machen dürfen», sagte er beim Regionalsender Tele M1. Und weiter: «Wahrscheinlich ist die Firma von Frau Martullo-Blocher einer Diktatur ähnlicher als unser Bundesstaat.»
Man könne trotz aller Coronamassnahmen in der Schweiz nicht von einer Diktatur reden, hält Gallati fest. «Es gilt immer noch die freie Meinungsäusserung, man kann den Bundesrat oder den Regierungsrat kritisieren, ohne dass einem etwas passiert – und das ist auch richtig so.»
Ein unverdächtiger SVP-Politiker ist auch der Baselbieter Gesundheitsdirektor Thomas Weber. Der ETH-Bauingenieur und Generalstabsoffizier sagt zu seiner eigenen Coronalinie: «Ich gehe weniger politisch als vielmehr strukturiert und mit Varianten an die Aufgaben heran.» Für Weber ist die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit wichtig, und es gelte: Im Zweifelsfall für die Freiheit. Dass die SVP die Schweiz als Diktatur bezeichne, sei «überspitzt formuliert», wobei Diktatur unterschiedlich definierbar sei:
«Eine Diktatur wie unter Lukaschenko oder Kim Jong Un haben wir natürlich nicht.»
Wenngleich man nicht von Diktatur in diesem Sinn sprechen könne, treffe es zu, dass der Bundesrat Kompetenzen habe wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und die Debatte darüber, wie die Schweiz wieder aus dieser Situation komme, sei legitim.
Natalie Rickli ist im «Team Gallati», nicht im «Team Martullo».
SVP-Mitglied ist auch die Gesundheitsdirektorin aus dem bevölkerungsreichsten Kanton Zürich. Natalie Rickli missfällt die Rhetorik ihrer Partei, die sie auch persönlich trifft: Wiederholt hat sie sich in der Zürcher Regierung für einen schärferen Kurs eingesetzt, nicht immer aber kam sie damit durch, oft wurde sie von einer Mehrheit unter Anführung der beiden SP-Regierungsräte Jacqueline Fehr und Mario Fehr ausgebremst. Am Mittwoch wollte sie sich nicht zu den neusten Martullo-Aussagen äussern, aber aus ihrem Umfeld verlautet klar: Sie sei im «Team Gallati», nicht im «Team Martullo».
Im Kanton Bern stellt die SVP mit Pierre Alain Schnegg ebenfalls den Gesundheitsdirektor. Er hat sich kürzlich in einem Interview mit dem «Bund» vom Vorwurf der Diktatur distanziert – wenn auch diplomatisch: «Ich würde nicht solche Begriffe verwenden. Aber Parteien haben eine andere Funktion als Regierungen.»
Schnegg gehört zu jenen SVP-Gesundheitsdirektoren, die in der Coronapolitik keineswegs eine weiche Linie fuhren – im Gegenteil. Vergangenen Oktober verbot Schnegg als erster im Land Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen. Sogar im Umfeld von SP-Bundesrat Alain Berset ist man voll des Lobes über den SVP-Regierungsrat. Schnegg liess sich auch im Terrassenstreit nicht umstimmen: Ex-SVP-Präsident Albert Rösti versuchte persönlich, seinen Parteifreund zum Öffnen der Terrassen in Skigebieten zu bewegen. Ohne Erfolg, Schnegg blieb hart.
Kommt hinzu: Selbst die SVP des Kantons Bern hat offenbar Mühe mit den scharfen Tönen der nationalen Parteispitze. Die Berner SVP versuche, die Mutterpartei zu mehr Mässigung zu bewegen, berichtete der «Bund» kürzlich.
Widerspruch aus Nidwalden
Nicht alle kantonalen SVP-Gesundheitsdirektoren formulieren es so deutlich wie der Aargauer Gallati. Die Nidwaldner Gesundheitsdirektorin Michèle Blöchliger sagt:
«Den Begriff Diktatur würde ich nicht verwenden. Aber gewisse Elemente sind schon vorhanden.»
Typisch in einer Diktatur sei, dass einer oder ein Gremium allein entscheide – und das trifft aus Blöchligers Sicht derzeit ein Stück weit zu. «Dass der Bundesrat in der derzeitigen besonderen Lage mehr Kompetenzen hat, ist zwar durch das Epidemiengesetz legitimiert. Das hat nichts mit Diktatur zu tun, sondern mit Führung in der Pandemie», sagt sie. Der Bundesrat berücksichtige jedoch die Stellungnahmen von Kantonen und Parlamentskommissionen zu wenig, kritisiert sie: «So entsteht der Eindruck: Der Bundesrat macht sowieso, was er will.» Dieses Gefühl sei inzwischen verbreitet, auch in der Bevölkerung.
In einem anderen Punkt stimmt die Nidwaldnerin Gallati zu: Ein konkretes Öffnungsdatum ins Gesetz zu schreiben, sei keine gute Idee, sagt die Juristin Blöchliger. Gleichzeitig zeigt sie aber Verständnis für das Vorgehen ihrer Partei: «Die Forderung ist ein Mittel, um Druck zu machen.»
Auch im Thurgau und in Uri stellt die SVP die Gesundheitsdirektoren. Beide Regierungsräte ziehen es vor, zu schweigen. «Ich äussere mich nur zu relevanten Themen», sagt der Thurgauer Urs Martin. Als Parlamentarier griff er selbst gern mal zum verbalen Zweihänder, doch seit seiner Wahl in die Regierung tritt er im Ton gemässigt und konziliant auf.
Der Urner Christian Arnold lehnte es ebenfalls ab, Stellung zu nehmen. Der gelernte Landwirt wäre grundsätzlich zwar wie die SVP für mehr Lockerungsschritte, doch ein Parteisoldat sei er nicht, sagt ein Beobachter über ihn.
Ob die Frontalopposition der SVP nützt oder schadet, ist umstritten
Der sich verschärfende Widerstand der SVP gegen die Schweizer Coronapolitik hängt damit zusammen, dass die Parteileitung davon überzeugt ist, damit Wählerstimmen zu gewinnen. Einen Beweis dafür gibt es aber nicht. Im Kanton Solothurn gewann die SVP am vergangenen Sonntag im Parlament zwar drei Sitze, den Einzug in die Regierung verpasste sie aber sehr deutlich. Im Wallis wiederum, wo ebenfalls gewählt wurde, verlor die SVP im Kantonsparlament einen Sitz.
Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher mochte am Mittwoch übrigens nicht auf Gallatis Kritik reagieren. Ihre persönliche Mitarbeiterin richtete aus: «Frau Martullo ist zeitlich sehr ausgelastet und kann deshalb nicht Stellung beziehen.»