«Ein zu Schuh gewordenes ‹Fuck you›»: Warum Dr. Martens jetzt wieder Trend sind

Wenn in einem durchschnittlichen Schuhgeschäft in einer mittelgrossen Schweizer Stadt eine ganze Wand freigeräumt wird, um derben Schnürstiefeln aus England Platz zu machen, dann ist das schon bemerkenswert. Und wenn in der Kinderabteilung glitzernde Kampfstiefelchen auf kleine Mädchenfüsse warten, dann kann man sich schon fragen: Was soll das?

Die Schmerzen beim Einlaufen gehören dazu

Die Antwort: Doc Martens ist wieder da. Erschaffen am 1. April 1960, war er nie ganz weg, ist in seiner Urform immer der Gleiche geblieben: Hartes, glattpoliertes Leder, dicke, luftgepolsterte Sohlen, gewölbte Kappe. Die Schmerzen beim Einlaufen gehören zu ihm wie die charakteristische gelbe Naht. Docs muss man eintragen, sie zähmen, sie sind eigenwillig wie ihre Träger und Trägerinnen.

Dr. Martens waren jahrzehntelang ein Schuh gewordenes «Fuck You!». Getragen stets von jener Subkultur, die mit der Gesellschaft gerade noch eine Rechnung offen hatte. Skinheads, Punks, Autonome. Pete Townshend, Gitarrist der Band The Who, sprang in den 1960er-Jahren bei seinen Auftritten in Doc Martens herum und hievte damit den Arbeiterschuh als Erster ins popkulturelle Milieu. Grunge-Legende Kurt Cobain kauerte in den 1990ern damit am Bühnenrand und sang «Rape me!» (Vergewaltige mich.)
Dr. Martens bis in den Himmel: Sänger Kurt Cobain in einer Werbekampagne.

Dr. Martens bis in den Himmel: Sänger Kurt Cobain in einer Werbekampagne.© CH Media

Vom Gesundheitsschuh zum Nazi-Stiefel

Selbst die unschöne Tatsache, dass der einstige Gesundheitsschuh (wegen seiner luftgepolsterten Sohle) zuerst zur linksradikalen Skinhead- und später zur rechtsradikalen Neo-Nazi-Uniform wurde, hat der Schuh überstanden – wenn auch nur knapp. Um das Jahr 2000 stand die Firma vor dem Aus. Die Verkaufszahlen gingen drastisch zurück, und alle Fabriken bis auf eine in Grossbritannien mussten geschlossen werden, um die Insolvenz abzuwenden. Es schien für einen Moment, als hätte sich der Arbeiterschuh selbst abgeschafft. Die Jugend trug lieber Turnschuhe (mit Plateau-Sohlen!) und tanzte selbstvergessen zu Techno.

Nun ist er also wieder da. Und soll nach 60 Jahren plötzlich massentauglich sein? Rebellion vorbei, Glitzer drauf? Willkommen im postideologischen Zeitalter von Doc Martens? Mitnichten.

Draussen ist Gefahrenzone, da sind dicke Sohlen von Vorteil

Dr.-Martens-Schuhe werden immer dann aus dem Schrank geholt, wenn die Zeiten rauer werden. Dazu passt ihr martialisches Aussehen, ihre laut Hersteller «benzin- und säureresistente Sohle». Schliesslich ist die Welt im Abwehrmodus. Wer weiss schon, hinter welcher Ecke, auf welcher Oberfläche, in welchem Aerosol das Virus lauert, wie lange welche Beiz noch offen hat und wann wir uns wiedersehen? Ausserhalb der eigenen vier Wände ist irgendwie alles Gefahrenzone.

Zwei Schuhe passen dazu:

Die Zeiten, als Frauen wie Carrie Bradshaw sich über einen Schuhschrank voller strassenuntauglicher High Heels definierten, sind vorbei.

© CH Media

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Das 1990er-Jahre Motto «dress for success», wo frau sich in Mini-Jupe und Stöckelschuhen nach der gläsernen Decke streckte, ist für junge Frauen von heute keine Perspektive mehr. Passt nicht zu Genderdiskussion und nachhaltigem Lifestyle. Doc Martens hingegen passen perfekt. Sie haben kein Geschlecht, modisch wollten sie nie sein, nachhaltig sind sie durch ihre Langlebigkeit. Und natürlich gibt es die Stiefel heute nicht mehr nur aus Leder, sondern auch als vegane Variante.

Oben Maske, unten Stiefel: die Unisex-Uniform für junge Frauen

Es sind vor allem junge, feministische Frauen, die sich jetzt Doc Martens an die Füsse schnüren. Die dazu hoch gegürtete Mom-Jeans tragen und sich einen Armee-Parka überwerfen. Eine Uniform, genderneutral, wetter- und krisenfest. Nicht sexy, nicht gefällig. Oben Maske, unten Kampfstiefel, das passt. Es braucht Ausdauer und Stehvermögen in dieser Zeit. Auf wackeligen High Heels ist das nicht zu bewerkstelligen, in weissen Turnschuhen eher auch nicht.

So wie der flache, maskuline Frauenschuh in den Zwanzigern ist hundert Jahre später der klobige Stiefel wieder ein Statement für Emanzipation. Denn wer heutzutage feministisch sein will, muss auch an die Umwelt denken. Und an die Menschen, die den Schuh gemacht haben. Frauen mit nachhaltigen Stiefeln an den Füssen machen deutlich, dass sie sich nicht wegschubsen lassen. Wenn es sein muss, können sie zutreten, auch im Blümchenkleid, denn auch dazu werden die Stiefel kombiniert – des Kontrasts wegen.

© Simon Maurer
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