
Erste Seconda und offen Homosexuelle im Stadtrat: Der Triumphmarsch der linken Silvia Dell’Aquila
Und dann fallen sie sich in die Arme, mitten auf der Rathausgasse, Silvia Dell’Aquila und Franziska Graf-Bruppacher, Genossinnen seit Jahren, Amtskolleginnen seit wenigen Minuten. Grossrätin Silvia Dell’Aquila ist die neue Stadträtin für die SP, hat den Sitz von Daniel Siegenthaler verteidigt. Zwar wurde sie keinem Bisherigen auch nur ansatzweise gefährlich, aber ihre 3598 Stimmen haben deutlich gereicht: Ihren nächsten Verfolger Stephan Müller hat sie mit über 1000 Stimmen Vorsprung weit hinter sich gelassen. Die beiden SP-Frauen umarmen sich eine Ewigkeit. «Wenn ihr noch lange macht, kommt der Bus», ruft jemand lachend.
Mit Silvia Dell’Aquila (45) hat Aarau nicht nur wieder eine Frauenmehrheit im Stadtrat. Mit Dell’Aquila wurde am Sonntag auch die erste Seconda und offen Homosexuelle in den Stadtrat gewählt. Just an dem Tag, an dem die Schweiz der «Ehe für alle» deutlich zugestimmt hat. Die Freude könnte nicht grösser sein. Und die Erleichterung auch nicht: «Die Ausgangslage war sehr gut, das wusste ich», sagt Dell’Aquila. Schon 2017 zog sie nicht der Anzahl Stimmen wegen (sie machte 3453) den Kürzeren, sondern der Überzähligkeit. Und doch habe sie jetzt zum Schluss noch angefangen zu zittern. «Wahlen sind unberechenbar, das ist wie beim Fussball.» Dann entschuldigt sich Dell’Aquila; daheim hat sie ihre Gäste stehen lassen müssen. Die Stimmen für die Stadtratswahlen waren viel früher ausgezählt als gedacht. Trotz hoher Stimmbeteiligung von 50,7 Prozent.
«Es ist keine Überraschung, dass es keine Überraschung gab»
Die überraschend frühen Resultate, sie machen diesen Sonntagnachmittag zu einer sehr gelösten Angelegenheit. Kein Vergleich zu den Wahlen 2017, als die Kandidaten sich bis kurz vor 17 Uhr gedulden mussten, die Spannung die Luft in den Gassen knistern liess, die Aarauer in Trauben vor dem Schaukasten am Rathaus standen und nach Resultaten suchten.
Nein, diesmal geht es schneller, als alle erwartet haben: Die amtierenden Stadträte sind kaum im Rathaus eingetrudelt, da werden die Wahlresultate präsentiert. Im Stadtratssaal den Stadträten, im Foyer den Medienschaffenden. Die Stadträte sollen unter sich sein, wenn sie von ihrem Abschneiden erfahren. Es ist 13.42 Uhr. Von oben ist gedämpft Applaus zu hören.
Verstecken hätte sich keiner müssen. Alle Bisherigen sind wiedergewählt, alle mit weit über 4000 Stimmen, Stadtpräsident und Vize wurden glanzvoll bestätigt: Hanspeter Hilfiker (56, FDP) mit 4081 Stimmen, 2017 waren es 3289 im zweiten Wahlgang. Werner Schib (49, Die Mitte) mit 3174 Stimmen, 2017 waren es 3167. Ihre beiden parteilosen Herausforderer Stephan Müller und Peter Wehrli haben sie deutlich hinter sich gelassen. Mit zufriedenen Gesichtern erscheinen die wiedergewählten Stadträtinnen und Stadträte auf der Treppe, jede und jeder mit einem roten Röschen in der Hand. Oben haben sie schon ein erstes Mal alle miteinander angestossen.
Nein, als intensiven Wahlkampf hat niemand die letzten Wochen empfunden. Aber ja, die Erleichterung ist trotzdem gross, ebenso die Freude auf vier weitere gemeinsame Jahre. «Ich bin froh, dass sieben Kandidaten im ersten Wahlgang das Absolute Mehr geschafft haben», sagt Hanspeter Hilfiker. Sein Herausforderer Stephan Müller, der inzwischen auch im Rathaus eingetroffen ist und allen gratuliert hat, meint, es sei keine Überraschung, dass es keine Überraschung gab. «Ich bin Realist. Und ich kenne die Aarauerinnen und Aarauer relativ gut.»
Beim Sortieren fürs erste offizielle Foto mit der neu gewählten Dell’Aquila wird die Frauenmehrheit erstmals offensichtlich. Eine Mehrheit, wie sie Aarau erstmals von 2014 bis 2017 hatte, mit Jolanda Urech als Stadtpräsidentin. «Mer händ Fröid, mer Manne!», ruft Hanspeter Thür (Grüne, 72), der mit 4764 Stimmen bestgewählte Stadtrat, und legt Angelica Cavegn (Pro Aarau, 61) den Arm um die Schultern. Franziska Graf-Bruppacher (50) sagt: «So ist es genau perfekt; mal mehr Frauen, mal mehr Männer.» Derweil bremst eine Patrouille der Stadtpolizei: «Chame scho gratuliere?», fragt der Polizist Suzanne Marclay-Merz (48), bislang Ressortvorsteherin Öffentliche Sicherheit.
Während die sieben Gewählten flachsen, steht einer etwas betrübt abseits. Daniel Siegenthaler, der Ende Jahr sein Amt abgibt. «Ich bin tatsächlich wehmütig.» Man habe in den letzten vier Jahren so gut zusammengearbeitet, das sei nicht selbstverständlich für ein politisches Gremium. «Der Montag mit der Stadtratssitzung war immer ein guter Tag.»
Bei Familie Burger muss sie den Abwasch übernehmen
So gut die Stimmung in der Altstadt oben, so gedämpft ist sie im «Schützen» im Schachen. Hier haben sich Exponenten der SVP versammelt, rund um die Familie Burger. Nachdem Simon Burger bei den Wahlen 2017 glorios scheiterte, ist es seiner Frau Nicole nun nicht besser ergangen: Mit 2371 Stimmen ist sie auf dem zweitletzten Platz gelandet, knapp 400 Stimmen fehlten zum absoluten Mehr. Selbst der Parteilose Stephan Müller hat mehr Stimmen gemacht.
«Es ist eine Enttäuschung», sagt Nicole Burger (41). «Wir haben an Stimmen geholt, was wir haben holen können.» Mehr sei für die SVP in Aarau offensichtlich nicht drin. Immerhin, den Galgenhumor haben die Burgers nicht verloren. Wer denn nun schlechter abgeschnitten hat, ob er oder sie, wissen sie nicht auswendig. «Aber wer weniger gemacht hat, wäscht heute Abend das Geschirr», meint Simon Burger. Er hat gut gepokert: Er hatte 2017 rund 340 Stimmen mehr gemacht.