
Es swingt, schwingt und walzert: Das Eröffnungsstück brachte das Haus zum Beben und das Publikum zum Toben
Das Publikum springt auf von seinen Sitzen und entert die für alle offene Bühne: Alles Walzer, alles dreht sich, alles rechtsrum – wer will links. Dann Polonaise, Kids mit Seniorinnen, der stolze Reitlehrer, der hier früher Rösser anspornte, die Musiker der Argovia Philharmonic, tanzend durch ihren neuen Konzertsaal – Maestro Fellini hätte daran Mass genommen: Das Schiff der Fantasie, das von Gemeinschaft träumt, ist Wirklichkeit!
Dieses Schlussbild eines rund um geglückten Abends wird als Gründungsmythos der Alten Reithalle in Erinnerung bleiben. Gemeinschaft entsteht, eine Bandenbildung über Sparten und Generationen. «Tanzhalle Reitpalast» entpuppt sich als grandioses Gemeinschaftswerk der unterschiedlichsten Aargauer Kulturschaffenden. Dass im Laufe des Abends die Töne auch schmerzhaft – und angriffig – werden, ist eine seiner Stärken.
Die Halle swingt, schwingt und walzert
Peter-Jakob Kelting ist eine Revue gelungen, die als Radiostunde – die erste Testsendung von Beromünster 1920 wird simuliert – und Zeitraffer funktioniert. Ausführende und Hauptbeteiligte sind Menschen verschiedener Bühnentalente – oder im Besitz von Street Credibility wie die hiesigen Parcours-Traceure. Mitbeteiligt ist indessen auch die Halle selbst, was für ein wunderbarer Klangkörper und stimmiges Gefäss. Michael Wolf sitzt als Radiomoderator in einer ihrer schönen Ecken, trägt eine Arbeiterschürze und spricht tastend in sein Mikrofon: «Hallo, Hallo, hört mich jemand?» Die Zeit antwortet, sie knistert.
Und auch wir hören, wir hören und sehen ein veritables Spektakel. Regisseur Tom Ryser und Choreografin Lilian Stillwell nehmen ihr Publikum mit auf eine rasende, perfekt getimte Zeitreise 100 Jahre zurück, von hinten in die Jetztzeit, einmal um die (Schweizer) Welt. Brennpunkt, Ehrensache, der Aargau. Und alle sitzen wir im selben Boot, einem Tanz-Kaffe nämlich, in dem sich die Vergangenheit – und die utopische Idee einer Zukunft, die der (Klima-)Jugend gehört – in wundersamen Bildern entrollt.
Als Utopie einer Gesellschaft taugt das Bild eines Bootes ideal. Das Boot muss voll sein, geprägt von unterschiedlichen Ambitionen und Herkünften, so will es der Abend! Den musikalischen Arbeitstakt liefern Mitglieder von Argovia Philharmonic. Zudem sind es alte Kämpen, Rock’n’Roller, Jazzer auch, der Schlagzeuger Marco Käppeli und Mannen. Grandios der Trompeter Peter Schärli.
Dem Stilprinzip der Revue folgend, geht alles schnell. Der Maienzug 1919, weiss gekleidete Kinder ziehen durch den Raum, klassische Musik bringt die Jugend in eine andere Dimension, metaphysisch. Im Konterzug sodann: Der Bachfischet.
Doch die Laternen tragen die fies grinsenden Gesichter der Corona-Viren von heute. Pandemie, schon damals, die Spanische Grippe. Tote forderte sie auch im Aargau. Die Zeit fliegt, es wird bereits Charleston getanzt, die «Argovetten» sind in Form. Da dröhnen am Horizont Flugzeuge: 2. September 1939, Mobilmachung, es ist Krieg! Mal intoniert der klassische Klangkörper, dann antworten die quasi Rolling Bones,«Time is on my side».
Revuetheater mit politischem Kern
Schlag auf Schlag entstehen – und verflüchtigen sich geisterhaft – Tableaus von dialogischer Wechselwirkung. Solistinnenleistungen glänzen, wenn die Sängerin Cinzia Catania, wir sind bereits in den Siebzigerjahren, an die Lage der unerwünschten Ausländer und Ausländerinnen erinnert – und dazu Politiker Schwarzenbach (Michael Wolf) für seine unrühmliche Initiative wirbt. Dann wiederum glänzen Gruppenerlebnisse und -gefühle, wenn der 50-köpfige Projektchor, inszeniert von Collectif Barbare das Klagelied der süditalienischen «Gastarbeiter» aufnimmt und in die Breite wirken lässt. Applaus für den Chor, Applaus für den Raum!
Im Laufe des Abends wird auch der alte weisse Mann geschlachtet, als fettleibige Greisen-Puppe der Gruppe «Die Nachbarn». Die Revue, die uns Kelting zumutet, scheut keine Bezüge zur Gegenwart. Ebenso scharf ist indes auch der Blick zurück. Erschütternd bis in die Knochen der kaum bekannte Brief eines Grenzsoldaten von 1942, vorgelesen von Michael Wolf, der die gewaltsame Zurückweisung jüdischer Flüchtlingsfamilien an der Tessiner Grenze detailliert vor Augen hält.
Gestern war gestern. Und morgen ist heute? Wäre dem tatsächlich so, hätte das Eröffnungsstück nebst Gemeinschaftsbildung auch etwas anderes geleistet: den Kommentar zum Schweizer Asylwesen. Das Aargauer Statement zur Zukunft unseres Zusammenlebens ist politisch. Zum Glück.
«Tanzhalle Reitpalast», bis 22. Oktober.