
Fütterung der Raubtiere: Keine Angst vor dem grossen Wolf
KEINE GEFAHR
Wölfe sind sehr intelligente und scheue Tiere. Sie haben eine angeborene, natürliche Angst vor dem Menschen, der ihr grösster Feind ist. Wölfe wurden über Jahrzehnte von Menschen beinahe bis zur Ausrottung gejagt. Ein gesunder Wolf in freier Wildbahn, riecht, hört und sieht einen Menschen lange, bevor wir den Wolf überhaupt wahrnehmen. Der Wolf wird dem Menschen ausweichen und sich zurückziehen. Dank seiner Fellfarbe ist er sehr gut getarnt, und wenn er sich nicht bewegt, ist er schlecht von der Umgebung zu unterscheiden. Die Chance, einem Wolf in freier Wildbahn zu begegnen, ist gering. Wer viel Glück hat, kann ihn vielleicht auf weite Distanz beobachten. Zeigt sich ein Wolf und bleibt einen kurzen Moment stehen, so wird er die Situation und sein Gegenüber interessiert beobachten und einschätzen und dann seinen Weg fortsetzen. Fakt ist, dass seit der Rückkehr der Wölfe in die Schweiz (1995) und nach Deutschland (1998) kein einziger Fall bekannt wurde, wo Wölfe aggressives Verhalten Menschen gegenüber gezeigt hätten. www.chwolf.org
Die Geschichten und Mythen um den «bösen» Wolf kennt jeder. Die Wahrheit allerdings nur wenige. Aufgeregt bin ich definitiv, als ich vor dem Tor des Tierparks Bern stehe. Wölfe gehören zu meinen Lieblingstieren. Sie faszinieren mich seit meiner Kindheit. Carina Tobler, Tierpflegerin und Wolfsexpertin, empfängt mich und führt mich in die Metzgerei des Tierparks. Ich darf heute bei der Wolfsfütterung helfen. «Hier bereiten wir das Futter für unsere Raubtiere vor. Als Tierpfleger müssen wir auch metzgen können», sagt Carina Tobler. Im Tierpark Bern leben verschiedene Raubtiere wie Bären, Wildkatzen, Leoparden oder Wölfe. «Wölfe sind reine Fleischfresser», erklärt die Tierpflegerin und führt mich im Tiefkühlraum herum. Rechts von uns liegt ein halbes Reh. «Seit fünf Jahren übergibt uns die Polizei das Fallwild für die Tiere. Gerade Wölfe und Bären lieben es, wenn sie einen ganzen Kadaver ins Gehege bekommen.» Laut Tierschutzgesetz dürfen keine lebendigen Tiere gefüttert werden.
«Manchmal bekommen sie auch 80 Kilogramm schwere Kälber. Dann essen die Wölfe zuerst, danach wird das Tier den Bären übergeben», erklärt Tobler. «Für die Bären ist das besonders spannend, da sie dann den Wolfsgeruch am Kadaver haben.»
Selbstbewusst und ohne Angst
Ich helfe der Tierpflegerin, das Futter vorzubereiten. Es besteht heute aus Pferdehackfleisch und Pouletschenkeln. «Wir versuchen, die Tiere möglichst so zu füttern, wie es in der Natur normal wäre», erklärt Tobler. «So gibt es Fastentage, da die Wölfe in der Natur nicht jeden Tag Jagderfolg haben.»
Da gestern Fastentag war, kriegt das Rudel heute eine grosse Ration. Den Eimer mit dem Futter transportieren wir gemeinsam durch den Zoo. Der Weg zu den Wölfen ist nicht weit. Vor dem Eingang zum Gehege übergibt mir Carina Tobler Einweghandschuhe. Auch klärt sie mich über die Verhaltensregeln im Wolfsgehege auf. «Wichtig ist, dass du ruhig bleibst und selbstbewusst bist. Angst spüren die Wölfe sofort. In einer Gruppe muss man zudem immer zusammenbleiben, damit man den Wölfen nicht plötzlich den Fluchtweg abschneidet.»
Die Tierpflegerin erklärt mir auch, dass die Wölfe immer den Menschen beobachten. Das Rudel wird mich also immer im Blick haben; jenes im Tierpark Bern besteht aus sechs Tieren. Das Alphapaar wurde im Zoo gezüchtet, die Jungtiere sind Nachkommen der beiden. Die Leitwölfe sind die Ersten, die zum Futter gehen und essen dürfen.
Gefühl, beobachtet zu werden
Mit dem neuen Wissen und mit Selbstbewusstsein betrete ich zusammen mit der Tierpflegerin das Wolfsgehege. Ich schaue mich um und entdecke – nichts. Weit und breit ist kein Wolf zu sehen. Carina Tobler und ich stellen den Futtereimer in die Mitte des Geheges. Von dort verteile ich das Pferdefleisch und die Pouletschenkel auf Steinen rund um die Wolfshöhle. Beobachtet fühle ich mich schon. Ich schaue auch öfters, ob ich einen Wolf entdecke, ohne Erfolg.
«Wo sind sie denn?», frage ich die Tierpflegerin. Sie grinst. «Dort sind ein paar, und dort auch.» Sie zeigt rechts und links an mir vorbei. Ich bin beeindruckt und versuche angestrengt, die Wölfe zu entdecken – nichts. Endlich sehe ich zwei Augen durch ein Gebüsch funkeln. Sie beobachten jede meiner Bewegungen. Der Moment ist magisch. Angst verspüre ich keine Sekunde. Ich weiss, dass die Wölfe mir nichts tun, solange ich sie nicht bedrohe. Carina Tobler und ich ziehen uns ein wenig zurück. Es dauert nicht lange bis der Leitwolf auf uns zukommt. Er bleibt in sicherem Abstand stehen und beobachtet uns lange, bevor er anfängt zu fressen. Ein unvergessliches Erlebnis!
In unserer Sommerserie «Mein erstes Mal» wagen sich Redaktorinnen und Redaktoren an Dinge heran, die sie schon lange einmal ausprobieren wollten.





