
«Gegen diese neue Normalität werde ich mich mit Händen und Füssen wehren»
Die Legitimation für den Lockdown seien die Spitalkapazitäten gewesen – nun würden die Schutzkonzepte «zur neuen Normalität von Herrn Koch», kritisierte die Aarburger SVP-Nationalrätin Martina Bircher am Wochenende auf Twitter. Es war nicht ihr erster kritischer Einwurf zu den Massnahmen des Bundes in der Corona-Krise.
Frau Bircher, wie sind Sie durch die Corona-Krise gekommen?
Persönlich gut, niemand aus meinem Umfeld ist erkrankt. Auch unsere Gemeinderatssitzungen haben noch physisch stattgefunden.
Sie haben sich auf Twitter kritisch zum Umfang der getroffenen Massnahmen und den Lockerungsschritten geäussert. Ihnen geht es zu wenig schnell?
Der rote Faden in der Argumentation fehlt mir; sie ist widersprüchlich.
Konkret, was stört Sie am meisten?
Was vergessen geht, ist die anfängliche Argumentation, warum der Lockdown beschlossen wurde. Am Anfang stand die Kapazitätsgrenze der Spitäler. Der Kanton Aargau hat 100 Intensivplätze. Berechnungen Anfang März ergaben, dass Ende April 300 Plätze nötig sind, falls die Ansteckungen weiter so ansteigen, wie sie es damals taten. Diese Situation trat – Gott sei Dank – nie ein.
Heisst doch, die Massnahmen waren richtig?
Wenn 80 oder 90 Intensivbetten belegt gewesen wären, ja. Aber sie waren mit maximal 27 Personen belegt. Viele Spitäler mussten sogar Kurzarbeit anmelden. Man ist also zu heftig reingeschossen. Ich mache deswegen niemandem einen Vorwurf. Konsequenterweise muss man sich aber jetzt – bei noch 10 bis 15 Ansteckungen schweizweit pro Tag – fragen, warum Campingplätze und Zoos noch geschlossen sein müssen. Das Ganze ist überhaupt nicht mehr verhältnismässig. Die Schulen, Läden und Restaurants sind jetzt seit zwei Wochen geöffnet, und die Zahl der Neuinfektionen ist überhaupt nicht angestiegen. Das war ja auch nach dem Osterwochenende so, streng genommen ist die erste Welle ja gar nie eingetroffen, auch wenn jetzt alle schon vor der zweiten warnen.
Was fordern Sie denn jetzt konkret?
Überall, wo die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden können, muss geöffnet werden. Auch das Kontaktverbot über fünf Personen müsste sofort gelockert werden. Und das Allerwichtigste: Das Notrecht gehört ausser Kraft gesetzt.
Sie haben bereits davor gewarnt, dass die Kosten in der Sozialhilfe zunehmen werden. Sie sind in Aarburg für die Sozialhilfe zuständig. Was erwarten Sie?
Ich stütze mich auf eine Studie der Konferenz der Schweizerischen Sozialhilfe, die in zwei Jahren mit 30 Prozent mehr Sozialhilfeempfängern rechnet. Wir können also auch mit rund 30 Prozent mehr Kosten rechnen. In Aarburg wären es statt 5 Millionen 6,5 Millionen Franken. Ein Steuerprozent bei uns ist rund 140 000 Franken. Jetzt können Sie selber rechnen. Und das alleine ist nur der Faktor Sozialhilfe, es wird ja auch zu Steuerausfällen kommen.
Das wären über zehn Steuerprozente. Ist diese Schätzung wirklich realistisch?
Ja, die Annahme ist fundiert gerechnet, obwohl die Entwicklung extrem schwierig abzuschätzen ist. Die Rezession beginnt erst. Die Massnahmen, die wir der Wirtschaft zumuten, wirken sich weiter negativ auf die Wertschöpfung aus – bei den Restaurants sieht man das mit der begrenzten Platzzahl am besten. Die Wirtschaft wird also weiter sehr leiden, das wird viele Arbeitsplätze kosten. Dann sind wir bei einem Problem, das ich schon oft aufs Tapet gebracht habe: Mit der Personenfreizügigkeit kommen Leute mit einem Arbeitsvertrag zu uns; wenn sie den Job verlieren, gehen sie nicht in ihr Heimatland zurück. Sie bleiben da und leben von den Schweizer Sozialsystemen. Ein Spanier, der schon früher nicht zurückgegangen ist, wird jetzt erst recht nicht zurückgehen, weil auch in seiner Heimat eine Rezession herrscht.
Der Grosse Rat hat 2017 Vorstösse von Ihnen überwiesen, die Sozialhilfe zu flexibilisieren.
Wir müssen jetzt Massnahmen ergreifen, dass wir 2022 parat sind. Wir sind, auch dank meinen Vorstössen, anderen Kantonen voraus. Es wäre wünschenswert, wenn jetzt schon eine Vorlage der Regierung im Raum stehen würde.
Wie lebt Martina Bircher mit der sogenannt neuen Normalität?
Gegen die neue Normalität, die jetzt in aller Munde ist, wehre ich mich mit Händen und Füssen. Sie gehört abgeschafft, so schnell wie möglich! Das Gesicht verhüllt, kein Handschlag – das entspricht nicht den Werten, die wir in der Schweiz hochhalten. Es gibt Leute, die meinen, sie müssen Hilfssheriff spielen, wenn jemand beim Einkaufen nicht exakt zwei Meter Abstand hält. Obwohl man ja kaum 15 Minuten neben einer Person beim Einkaufen stehen bleibt. Der gesunde Menschenverstand scheint einigen abhandengekommen zu sein, das gesellschaftliche Klima nimmt Schaden. Das darf nicht zur neuen Normalität werden. Da sehe ich politisch die grösste Gefahr. Seit den Terrorschlägen von 2001 darf man beispielsweise nicht mehr mit Flüssigkeiten reisen. Technisch gibt es längst Möglichkeiten, das wieder abzuschaffen. Nach der Corona-Krise könnte es ähnlich sein: Dinge, die in der Krise beschlossen wurden, könnten bleiben. Das hat die Vergangenheit leider immer wieder gezeigt. Masken gehören daher wieder verbannt, und man soll sich bei der Begrüssung wieder die Hände reichen – so schnell wie möglich.