
Géraldine Ruckstuhl hat nach einer starken Saison gut lachen
Sie sind kürzlich nach Ägypten in die Ferien gereist. Wie gut haben die erholsamen Tage nach einer langen und ereignisreichen Saison getan?
Géraldine Ruckstuhl: Sehr gut. Es war eine intensive Saison, in den vergangenen sechs Monaten bin ich keine zwei Wochen am Stück zuhause gewesen. In den Ferien konnte ich etwas komplett anderes als Leichtathletik machen oder einfach abschalten, geniessen und nicht über den Sport nachdenken. Ich habe viel mit Kolleginnen und meiner Familie unternommen. Das war schön, weil ich im Sommer eigentlich nie Zeit dazu habe.
Haben Sie schon realisiert, was Sie in den letzten Monaten erreicht hatten?
Nein, in den Ferien dachte ich überhaupt nicht über die Leichtathletik nach. Ich kann in den Ferien aber nicht einfach Nichts machen, sondern treibe viel Sport. In Ägypten spielte ich beispielsweise Tennis oder erlangte das Tauchbrevet. Dabei kommt man gar nicht auf diese Gedanken, weit weg von zuhause und dem Leichtathletik-Umfeld. In den nächsten Wochen werde ich es sicher realisieren, wenn wieder Interviewanfragen eintreffen oder Sportlerehrungen anstehen und ich deshalb über mein Jahr nachdenken muss.
Welcher Moment bleibt Ihnen von der Saison am stärksten in Erinnerung?
Schwierig zu sagen. Ich glaube, es ist die Ehrenrunde bei den Weltmeisterschaften in London. Das war sehr emotional. Ich habe das so noch nie erlebt, weil wir bei Nachwuchswettkämpfen keine ganze Runde zusammen laufen. In London wusste ich zudem: Jetzt sind meine Siebenkämpfe vorbei und die Saison ist schon fast fertig. Damals ist eine grosse Last von mir gefallen und ich konnte die Ehrenrunde richtig geniessen. Es war Gänsehautstimmung pur, als ich an den vielen jubelnden Zuschauern vorbeilief.
Es stimmt also, dass die Siebenkämpferinnen eine grosse Familie sind.
Während des Wettkampfs redet man nicht viel miteinander, schliesslich sind wir Konkurrentinnen. Nach dem Ende fragt man aber schon bei der Gegnerin nach, wie es ihr gelaufen ist. Besonders nach der letzten Disziplin, dem 800-m-Lauf, helfen wir uns im Ziel gegenseitig, weil alle ausgepumpt sind. Oder man puscht die Gegnerin, wenn es ihr beim Hochsprung – der zweiten Disziplin – nicht läuft und sagt: «Gib noch nicht auf, mach weiter.» Dieses familiäre Umfeld gefällt mir. Beim 100-m-Sprint ist die Situation total anders, die Athletinnen und Athleten sind nur wenige Sekunden auf dem Platz und reden nicht miteinander. Im Siebenkampf verbringt man stattdessen zwei Tage zusammen.
Warum sind Ihnen in diesem Jahr so viele Exploits gelungen?
Im Jahr 2016 war ich verletzt. Das bleibt mir aber nicht nur in negativer Erinnerung, ich habe in dieser Zeit wertvolle Erfahrungen gesammelt. Ich lernte meinen Körper besser kennen und merkte, was er im Stande ist auszuhalten. Und ich besass einen enormen Willen, um wieder auf den Leichtathletikplatz zurückzukehren. Denn 2016 war nicht sicher, ob ich wieder mein altes Niveau erreichen würde – zumal ich 2017 erstmals Siebenkämpfe mit Sportgeräten der Gewichtsklasse der Aktiven bestritt. Als aber die Einladung für den Mehrkampf in Götzis eintraf, wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Dieses Meeting ist vergleichbar mit der Champions League im Fussball.
Nach Götzis folgten weitere Höhepunkte wie die Silbermedaille und der Schweizer Rekord bei den Europameisterschaften in Grosseto und die Weltmeisterschaften in London. Waren sie überrascht über diesen Saisonverlauf?
Ich war selber überrascht und hätte nicht erwartet, dass ich eine derart gute Form besitze. Natürlich wollte ich, wenn möglich, an der WM starten, aber daran habe ich zu Beginn des Jahres nicht gedacht. Dass ein Highlight aufs nächste folgte, war genial. Es hat einfach vieles zusammengepasst.
Ihre sportlichen Spitzenleistungen sind insofern bemerkenswert, weil Sie im Sommer ihre kaufmännische Ausbildung abgeschlossen haben. Wie haben Sie die Belastung mit den 13 bis 15 Trainingsstunden pro Woche unter einen Hut gebracht?
Ich erstellte einen Wochenplan und koordinierte die Trainings mit meinem Trainer Rolf Bättig. Während der Schulzeit hatte ich fix am Dienstag- und Donnerstagnachmittag frei und konnte trainieren. Nebenbei nahm ich mir bewusst Zeit, um zu lernen, beispielsweise in Trainingspausen oder im Zug. Ich achtete auch darauf, dass die Regeneration nicht zu kurz kam. Mit meinem Wochenplan hat das gut funktioniert, man muss sich einfach daran halten. Gleichzeitig bin ich dankbar für die Unterstützung von meiner Familie, den Trainern und Sponsoren. Ihre Hilfe ist nicht selbstverständlich.
Wie gehen Sie mit der zusätzlichen Belastung durch die gestiegene Öffentlichkeitsarbeit um?
Seit diesem Jahr unterstützt mich die «samm group» aus Baar. Es gab viel mehr Medienanfragen, vor allem seit Götzis und nach der WM in London, die im Fernsehen übertragen wurde. Das gibt einem eine ganz andere Aufmerksamkeit, als ich mir das bisher gewohnt war. Die Medienarbeit macht mir Spass und sie gehört zum Spitzensport. Auch wenn es mit zusätzlichem Aufwand verbunden ist, für den ich ein paar Stunden investieren muss.
Sie trainieren nach wie vor bei Ihrem Stammverein im «bescheidenen» Altbüron – warum?
Für mich passt es einfach. Im Winter trainieren wir in Altbüron in der Halle, im Sommer auf der 100-Meter-Anlage im Nachbardorf Grossdietwil. Die Trainer bilden sich stets weiter, mein Team funktioniert. So lange das der Fall ist, gibt es keinen Grund, etwas daran zu ändern. Ich finde es schön, dass ich mit meinen Kollegen im gleichen Verein trainieren kann. Wir haben immer Spass zusammen, das würde ich in einem grösseren Verein vermissen. Mir ist wichtig, dass ich alle Leute kenne.
Profitiert auch der STV Altbüron von Ihnen und Ihren Erfahrungen?
Der Verein hat das Topstarter-Programm gegründet, um Talente finanziell zu unterstützen. Das kommt mir und meinem Trainer zu gut. Ich probiere deshalb, dem STV Altbüron viel zurückzugeben. Ein Training musste ich bis jetzt aber noch nicht leiten. In den Trainings gebe ich den kleinen Mädchen öfters Tipps. Sie betrachten mich als Vorbild, deshalb denke ich, dass sie das anspornt, wenn sie mich im Training sehen.
Wie wichtig ist Ihnen die Verwurzelung zu Ihrem Wohnort?
Sehr wichtig. Nicht nur wegen den Trainings, ich wohne ja auch hier. Altbüron hat nur rund 1000 Einwohner, ist ein kleines Dorf und familiär. Ich kenne jeden hier und es ist ruhig. Wenn ich von Wettkämpfen zurückkehre, kann ich zuhause Energie tanken und mich erholen. Das schätze ich an Altbüron, und das Dorf schätzt mich. Das ist auch schön.
Braucht es in Zukunft trotzdem den Schritt ins Ausland, um noch erfolgreicher zu werden?
So lange es gut läuft, will ich nichts verändern. Beim STV Altbüron trainiere ich Ausdauer und Sprint gegen die Männer, deshalb ist die Konkurrenz vorhanden. Wenn aber die Leistungen nicht mehr stimmen sollten und ich stehen bleibe, müsste ich mir vielleicht etwas anderes suchen.
Ist eine Karriere als Profisportlerin für Sie ein Thema?
Ich möchte diesen Weg einschlagen, aber nicht zu 100 Prozent. Ich brauche die Abwechslung durch die Arbeit, das macht mir Spass. Es ist ein guter Ausgleich, nach einem harten Training am nächsten Tag bei der Arbeit den Kopf abzuschalten. Ein Alltag nur mit Sport wäre mir zu langweilig. Zudem ist es in der Schweiz leider nicht so einfach, als Einzelsportlerin in der Leichtathletik den Profi-Status zu erreichen.
Wo sehen Sie im Siebenkampf am meisten Steigerungspotenzial?
In allen Disziplinen ist nach oben noch recht viel offen. Ich kann mich im Kraft- und Ausdauerbereich sowie bei der Geschwindigkeit steigern. Bei manchen Disziplinen wie dem Speer bin ich sicher weiter als zum Beispiel im Weitsprung, da klappt vieles noch nicht zusammen. Ein grosses Manko besteht jedoch nirgends.
Wie bereitet man sich im Siebenkampf am besten vor, um in allen Disziplinen erfolgreich zu sein?
Grundsätzlich trainiere ich alles, aber nicht in einer Woche. Wir legen die Schwerpunkte je nach Form und wägen ab, was es braucht. Wenn ich im Hürdenlauf keine guten Leistungen erzielt habe, investieren wir in diesem Bereich mehr und trainieren es zwei- statt einmal pro Woche. Dafür ist das Kugelstossen erst später an der Reihe. Die Schwierigkeit besteht darin, das Gleichgewicht zwischen Ausdauer, Sprint und Kraft zu finden. Ich darf nicht zu schwer sein für den 800-m-Lauf, was aber im Kugelstossen und Speerwurf passen würde.
Besteht trotzdem die Möglichkeit, dass Sie sich auf eine Disziplin konzentrieren werden, falls Ihnen der Aufwand zu viel wird?
Mir ist der Aufwand nicht zu viel. Ich möchte mich nicht auf eine einzelne Disziplin fokussieren, denn ich brauche die Abwechslung. Eine Woche lang nur das Gleiche trainieren, könnte ich nicht, aus diesem Grund mache ich den Siebenkampf. Es gefällt mir, nicht jeden Tag dasselbe Training zu haben. Wenn ich aber mit dem Siebenkampf in einem gewissen Alter nicht mehr weiterkomme, ist ein Wechsel zum Speer möglich. Ich müsste dann sicher an Kraft zulegen, um mit den Spezialistinnen mithalten zu können.
Bleiben wir beim Blick in die Zukunft. Wie schwierig wird es, die Erfolge in der kommenden Saison zu bestätigen?
Das Wintertraining muss sicher verletzungsfrei ablaufen. Danach ist offen, wie sich die Saison entwickelt. Wenn ich gut trainieren kann, sollten auch die Resultate entsprechend sein. Wenn nicht, dann klappt es in dieser Saison eben nicht. Es kann nicht immer nur aufwärtsgehen, das habe ich bei meiner Verletzung im letzten Jahr gemerkt. Ich versuche aber, die Werte aus der letzten Saison sicher zu bestätigen oder gar zu verbessern.
Wie sehen Ihre nächsten Monate konkret aus?
Jetzt beginnt der Aufbau für die Saison 2018. Am 30. Oktober rücke ich für ein halbes Jahr in die Spitzensport-Rekrutenschule in Magglingen ein, kann aber weiterhin in Altbüron trainieren. Danach will ich mit einem reduzierten Pensum weiterarbeiten und die Berufsmaturität im Selbststudium nachholen. Mir machen Fotoshootings, wie jenes kürzlich mit der Schweizer Illustrierten, grossen Spass und der Bereich Personal Training interessiert mich sehr. Welchen beruflichen Weg ich nach der RS aber einschlagen werde, ist offen.
Ihr Traum sind die Olympischen Spiele 2020. Wie realistisch stufen Sie eine Teilnahme in Tokio nach dieser Saison ein?
Wenn ich verletzungsfrei bleibe, sollte der Start eigentlich ein realistisches Ziel sein. An den beiden Wettkampftagen muss aber immer alles zusammenpassen, damit ich die Limite erfüllen kann. Nach dieser erfreulichen Saison blicke ich aber positiver nach Tokio als nach der Verletzung im vergangenen Jahr.
Zur Person
Géraldine Ruckstuhl ist 19 Jahre alt und wohnt bei ihrer Familie in Altbüron. Sie ist Mitglied des Schweizer Leichtathletik-Nationalkaders und hat 2017 als Siebenkämpferin für Furore gesorgt. Im Mai brach Ruckstuhl beim Weltklasse-Mehrkampf-Meeting in Götzis (Ö) mit 6291 Punkten den 32 Jahre alten Schweizer Rekord, zudem stellte sie auch im Speerwurf mit 58,31 m neue nationale Bestweite auf. Im Juli gewann das Mitglied des STV Altbüron bei den U20-Europameisterschaften in Grosseto (It) Silber und schraubte mit 6357 Punkten den Mehrkampf-Landesrekord nochmals in die Höhe. Als Krönung folgte für die Luzernerin, die im Juni ihre Ausbildung zur kaufmännischen Angestellten abgeschlossen hatte, im August der elfte Platz bei den Weltmeisterschaften in London (Gb). Ruckstuhls Exploit kommt insofern überraschend, weil ihre Karriere im März 2016 für kurze Zeit auf der Kippe stand. Nach einem Sturz beim Hürden-Training zog sich die U18-Weltmeisterin innere Verletzungen zu und musste notoperiert werden.