Gerichtspräsidentin Jacober: «Ein Beschuldigter muss nicht die Wahrheit sagen.»

Teile der Schweizer Bevölkerung fordern vehement eine härtere Gerichtspraxis. Ist das auch in Ihrem Sinn?
Kathrin Jacober: Wir Richterinnen und Richter sind die dritte Gewalt in unserem Rechtsstaat. Unsere Aufgabe ist es, die Gesetze anzuwenden. Die Forderung nach Gesetzesänderungen müssten an das Parlament, welches die Gesetze erlässt, gerichtet werden.

Das Wort «Kuscheljustiz» macht immer öfter die Runde. Wie reagieren Sie auf solche Vorwürfe?
«Kuscheljustiz» beinhaltet den Vorwurf von zu tiefen Strafen. In der Öffentlichkeit mag bei gewissen Fällen tatsächlich der Eindruck entstehen, dass die Richter zu milde geurteilt haben. Dies liegt aber darin, dass die Bevölkerung oft nur wenig über die konkreten Fälle weiss. Die Öffentlichkeit kennt die Akten, Fakten und Besonderheiten eines Verfahrens nicht oder nur sehr beschränkt. Die Überlegungen, die sich ein Gericht insgesamt macht und die Einzelheiten eines Falles werden meist nur denen bekannt, die an der Gerichtsverhandlung teilnehmen. Entsprechend entspringt der Vorwurf von Kuscheljustiz häufig einer einseitigen Sichtweise. Das kommt unter anderem in wissenschaftlichen Studien zum Ausdruck, welche belegen, dass die Bevölkerung eher milder urteilt als die Gerichte, wenn sie sich mit einem Fall eingehend auseinandersetzen.

Was ist mitentscheidend für eine mildere Strafe?
Strafzumessung ist kein rein intuitiver Vorgang – wir halten nicht einfach den Finger in die Luft. Es ist vielmehr das Ergebnis einer differenzierten Abwägung verschiedener Faktoren. Diese ergeben sich aus dem Gesetz. Massgebend ist beispielsweise, ob ein Beschuldiger vorbestraft ist, aus welchem Motiv er gehandelt hat. Das konkrete Tatvorgehen, die Beziehung zum Opfer sowie die Konsequenzen des strafbaren Handelns sind weitere wichtige Punkte, welche im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden müssen. Wer diese Aspekte nicht kennt, kann durchaus im Einzelfall den Eindruck erhalten, die Richter hätten zu milde entschieden.

Wie haben Sie den «Fall Rupperswil» mitverfolgt?
Nur aus den Medien. Entsprechend kann ich mich nicht dazu äussern.

Gibt es aus Ihrer Sicht ein Land mit einem besseren Rechtssystem als die Schweiz?
Eine abschliessende Antwort kann ich Ihnen nicht geben. Es gibt unzählige Dissertationen über Rechtsvergleichung, die ganze Bibliotheken füllen. Um Ihre Frage beantworten zu können, müsste man die Rechtssysteme aller einzelnen Länder im Detail kennen.

Wie beurteilen Sie unser Rechtssystem?
Wir haben ein gut funktionierendes Rechtssystem mit ausgebauten Verfahrens- und Parteirechten. Dazu gehört beispielsweise der Anspruch auf rechtliches Gehör, welcher unter anderem ermöglicht, sich vor einem Entscheid zu äussern und Akteneinsicht zu erhalten. Zu erwähnen sind zudem das Recht, sich durch einen Anwalt vertreten zu lassen, sowie die Möglichkeit, ein Urteil an die nächsthöhere Instanz weiterzuziehen.

Während einer Gerichtsverhandlung stellen sich die Angeklagten ja immer ins beste Licht. Wie gehen Sie damit um, dass Sie ständig angelogen werden?
Ein Beschuldigter ist nicht verpflichtet, in der Untersuchung mitzuwirken. Er muss nicht die Wahrheit sagen und darf auch die Aussage verweigern. Das gehört zu seinen Rechten im Verfahren. Entsprechend ist die Bandbreite sehr gross; von Beschuldigten, die alles abstreiten, bis hin zu Personen, die vollumfängliche Geständnisse ablegen. Es ist meine Aufgabe als Richterin, das jeweilige Verhalten neutral anzuschauen, die Aussagen zu würdigen und dann zu entscheiden.

Sehr oft zeigen Beschuldigte auch Gefühle, brechen in Tränen aus. Berührt Sie das?
Eine Gerichtsverhandlung bedeutet für die Betroffenen in der Regel eine grosse emotionale Belastung. Vom Gericht wird jedoch eine gewisse Distanz erwartet. Dies ist auch nötig, um unvoreingenommen, unparteiisch und sachlich urteilen zu können. Eigene Emotionen müssen in diesem Zusammenhang deshalb im Hintergrund bleiben.

Können Sie gut abschalten?
Wenn man mit menschlichen Schicksalen konfrontiert ist – und solchen begegnen wir am Bezirksgericht tagtäglich – lässt sich nicht einfach abends die Bürotüre schliessen und alles hinter sich zu lassen. Aufgrund meiner Erfahrung gelingt es mir aber sehr gut, die Distanz zu wahren. Diese Abgrenzung ist wichtig, damit man die Verfahren mit der gebotenen Neutralität beurteilen kann.

Kommt es vor, dass Sie abends im Bett liegen und sich Gedanken machen, ob Sie in einem bestimmten Fall richtig geurteilt haben?
Wenn ein Urteil gefällt wird, habe ich den Fall minutiös durchgedacht. Denn ein Schwerpunkt der richterlichen Tätigkeit liegt in einer gründlichen Vorbereitung. Nach dem Entscheid, welcher nach bestem Wissen gefällt wird, muss man sich auch wieder lösen können, um sich den nächsten Fällen voll konzentriert widmen zu können.

Lesen Sie alle vorhandenen Akten vor einem Prozess?
Selbstverständlich! Schliesslich geht es darum, sich ein umfassendes Bild zu verschaffen. Das Aktenstudium ist ein zentraler und wichtiger Aufgabenbereich. Im Strafverfahren gilt es zu entscheiden, ob einer beschuldigten Person eine strafbare Handlung nachgewiesen werden kann. Dazu muss ich sämtliche vorhandene Beweise kennen und analysieren.

Wann erhalten Sie dann Einblick in diese Akten?
Im Strafverfahren erhalte ich die Akten nach Abschluss der Strafuntersuchungen, das heisst im Zeitpunkt, in dem die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Im Zivilverfahren läuft es etwas anders. Hier müssen die Parteien den wesentlichen Prozessstoff liefern, die Beweismittel nennen und diese beibringen. Dies geschieht in der Regel mit Eingabe der Rechtsschriften (z. B. Klage, Klageantwort).

Wann bekommen Sie die Beschuldigten erstmals zu Gesicht?
Dies ist grundsätzlich erst an der Hauptverhandlung der Fall.

Was erfolgt nach der mündlichen Urteilsverkündigung im Gerichtssaal?
In der Öffentlichkeit werden primär die Geschehnisse an einer Gerichtsverhandlung wahrgenommen. Im Hintergrund geschieht jedoch sehr viel mehr, denn nach einer Verhandlung folgt eine wesentliche Detailarbeit: Der Gerichtsschreiber verfasst das schriftliche Urteilsdispositiv, das von der Kanzlei ausgefertigt wird. Und je nachdem muss der Gerichtsschreiber die Urteile gemäss den richterlichen Erwägungen schriftlich ausführlich begründen. Dies kann im Einzelfall viel Zeit in Anspruch nehmen.

Wie definieren Sie Gerechtigkeit?
Das ist eine philosophische Frage! Gerechtigkeit an sich ist ein vielschichtiger Begriff. Als Richterin verknüpfe ich Gerechtigkeit mit einem korrekten, fairen Verfahren. Das beginnt mit einer gründlichen Vorbereitung des Falls, beinhaltet zudem, dass man den Parteien die Möglichkeit gibt, ihre Argumente vorzubringen, und endet mit einem Urteil, das nach bestem Wissen und Gewissen gefällt wurde.

Was geht in Ihnen vor, wenn Verteidiger für Ihre Mandanten Freisprüche fordern, obwohl allen im Saal klar ist, dass der Angeklagte nicht straffrei aus dem Saal kommt?
Es ist das Recht jeder beschuldigten Person, die Vorwürfe abzustreiten und von ihrem Verteidiger entsprechend vertreten zu werden. Das ist eine wesentliche Verfahrensgarantie. Ich nehme solche Voten als Ausdruck des rechtlichen Gehörs entgegen. Es ist die Aufgabe des Gerichts, im Anschluss daran die Argumente und Aussagen zu analysieren und zu würdigen.

Wie läuft eine Urteilsfindung nach der Verhandlung im Gesamtgericht ab?
Nach einer Hauptverhandlung findet unter den Richtern die Urteilsberatung statt. Dabei werden alle sich im konkreten Fall stellenden Fragen diskutiert. Jeder Richter teilt seine Auffassung mit und bringt seine Argumente ein. Gestützt auf diese Beurteilungen wird im Anschluss daran der Entscheid gefällt. Dieses Prozedere kann durchaus länger dauern. Dies ist jedoch auch angemessen und richtig.

Sind Sie auch schon überstimmt worden?
Wie in der vorherigen Antwort angetönt, stimmt jeder Richter mit seiner eigenen Stimme, wobei jede gleichwertig ist. Wer im konkreten Fall wie entschieden oder gestimmt hat, gehört jeweils zum Beratungsgeheimnis.

Viele Gerichte in unserem Land sind überlastet, worauf ist das zurückzuführen?
Ich kann nur für die Situation im Bezirk Zofingen sprechen und keine Aussage zu anderen Bezirksgerichten im Kanton Aargau, geschweige denn zur gesamtschweizerischen Lage machen. Grundsätzlich ist das Bezirksgericht die Instanz, welche mit den meisten Verfahren konfrontiert ist. Die Arbeitsbelastung ist entsprechend hoch.

Wie oft muss das Bezirksgericht Strafmilderung aussprechen, weil ein Angeklagter durch die Medien vorverurteilt wurde?
Mir ist persönlich kein Fall bekannt, in welchem ich eine Strafe aufgrund einer medialen Vorverurteilung reduzieren musste. Unabhängig von einer allfälligen Strafreduktion ist allerdings zu bedenken, dass wir als Richter auch unter grosser öffentlicher Aufmerksamkeit entscheiden müssen und dies auch können, ohne uns von einer tendenziösen Berichterstattung beeinflussen zu lassen.

Warum ist Richterin am Bezirksgericht ein Traumjob?
Ich empfinde es als Privileg, ein solches Amt ausüben zu dürfen. Es ist eine sehr vielfältige, spannende Aufgabe. Man kommt mit sehr vielen Menschen in Kontakt, sieht und erlebt so einiges. Zudem ist es eine verantwortungsvolle Aufgabe innerhalb unserer Gesellschaft, Streit zwischen Rechtsuchenden möglichst zu beenden und über Fälle zu urteilen, die Konsequenzen haben müssen.

Mussten Sie schon Fälle beurteilen, die Sie sich vorher nicht im schlimmsten Traum haben vorstellen können?
Als Richterin bin ich immer wieder mit Handlungen konfrontiert, die sich nur schwer nachvollziehen lassen. Mit der Zeit lernt man aber, dass nichts unmöglich ist.

Inwieweit versetzt man sich als Richterin in die Angeklagten und/oder Geschädigten hinein?
Es ist nötig, eine Tat als solche zu erfassen. Dazu müssen wir die besonderen Beweggründe und Motive des Täters verstehen; dies jedoch stets mit der gebotenen Neutralität und Unabhängigkeit. Es gilt, das konkrete Handeln und nicht den Menschen an sich zu beurteilen.

Haben Sie auch schon spezielle Vorfälle im Gerichtsfall erlebt?
Verhandlungen enthalten regelmässig emotionale Aspekte. Dies versteht sich von selbst, wenn man sich vor Augen hält, was eine Verurteilung für die betroffene Person und ihre Angehörigen bedeutet. Einzelne Fälle kann ich aber keine nennen.

Gewisse Beschuldigte kommen mit Fuss- und Handfesseln zu den Verhandlungen. Wer entscheidet das?
Das hängt vom konkreten Sicherheitsdispositiv ab. Ist beispielsweise zu befürchten, dass die beschuldigte Person flüchtet, oder ist sie auf eine andere Art gefährlich, so müssen geeignete Sicherheitsmassnahmen ergriffen werden. Während einer Verhandlung werden jedoch in der Regel die Handfesseln entfernt.

Haben Sie auch schon eine tätliche Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer erlebt?
Zum Glück noch nicht!

Wissen Sie, dass am 17. Juni 1964 am Bezirksgericht in Zofingen ein Richter erschossen wurde?
Ja, das weiss ich und es war mir schon bekannt, bevor ich hier die Arbeit in Zofingen aufnahm.

Waren Sie als Richterin zu weich, wenn ein Urteil nicht an die nächsthöhere Instanz weitergezogen wird?
Nein, diese Schlussfolgerung wäre falsch. Es gehört zu unserem Rechtsstaat, dass Rechtsmittel gegen ein Urteil zur Verfügung gestellt werden und diese ergriffen werden können, wenn man mit dem Urteil nicht einverstanden ist. Es darf nicht vergessen werden, dass die Parteien in der Regel ganz gegensätzliche Standpunkte vertreten. Wird ein Urteil akzeptiert, kann das auch bedeuten, dass es verstanden und als richtig und gerecht empfunden wird. Das ist doch positiv! Ich bemühe mich bei der Urteilseröffnung stets, die Überlegungen des Gerichts eingehend darzulegen und zu erklären, weshalb wir zu welchem Schluss gekommen sind. Das Urteil soll für die Betroffenen nachvollziehbar sein.

Werden viele Urteile des Bezirksgerichts weitergezogen?
Ich führe für mich keine Statistik, wie viele Urteile weitergezogen werden. Die Möglichkeit des Weiterzugs ist aber Teil unseres Rechtssystems und Ausfluss der Parteirechte.

Erachten Sie einen Weiterzug als eine Niederlage?
Nein. Nochmals: Ebenso wie die Parteien ihre guten Gründe haben können, ein Urteil nicht anzufechten, ist es umgekehrt denkbar, dass ein Bedürfnis besteht, dieses von einer zweiten Instanz beurteilen zu lassen. Deshalb sagt ein Weiterzug eines Urteil nichts über seine Qualität aus. Entsprechend fasse ich einen Weiterzug auch nicht als Niederlage auf.

Verfolgen Sie Ihre Gerichtsfälle weiter? 
Ja, natürlich. Das interessiert mich.

Sie sind seit bald acht Jahren in Zofingen am Bezirksgericht. Haben Sie in dieser Zeit eine Veränderung der Fälle festgestellt?
Als ich begann, hatten wir deutlich mehr Fälle von Einbruchsdiebstählen zu beurteilen. Inzwischen haben diese Delikte tendenziell wieder abgenommen, ohne dass ich einen sprunghaften Anstieg in anderen Bereichen festgestellt habe. Es sind häufig Wellenbewegungen, die sich schnell wieder ändern können.

TV-Gerichtssendungen erfreuen sich grosser Beliebtheit. Was halten Sie von diesen Sendeformaten?
Ich muss Sie enttäuschen, ich schaue mir solche Sendungen nicht an. Ich schaue allgemein nicht viel TV.

Zur Person:

Kathrin Jacober (36) ist in Therwil und Bottmingen (Baselland) aufgewachsen und hat dort auch die Schulen besucht. Nach dem Gymnasium (Matura D) und dem Studium an der juristischen Fakultät der Uni Basel, mit einem Mobilitätsjahr an der Uni Bern, schloss Kathrin Jacober dieses mit dem Lizenziat (magna cum laude) ab und erhielt 2008 das Patent als Aargauische Rechtsanwältin. Ihre praktische Ausbildung erwarb sie vorab am Bezirksgericht Baden sowie in einer Wirtschaftskanzlei in Basel sowie als Assistentin bei Prof. Dr. Martin Killias, Lehrstuhl für Strafrecht, an der Uni Zürich. Sie war zudem Gerichtsschreiberin am Obergericht des Kantons Aargau. Die Stelle am Bezirksgericht Zofingen ist ihr erstes Richteramt. Ihre Freizeit verbringt sie gerne in der Natur, absolviert Läufe bis und mit Marathondistanz, und besucht gerne Opern und klassische Konzerte. Im Winter ist sie in den Bergen und auf den Skipisten anzutreffen. Kathrin Jacober ist verheiratet.