Grünen-Chef Glättli kritisiert den Bundesrat scharf: «Was ist mit den ungeimpften Hochrisikogruppen?»

Der Bundesrat öffnet Restaurantterrassen, Kinos, Theater, Fitnessstudios, lässt Chorproben und Sporttrainings im Innern zu. Weshalb halten die Grünen diesen Schritt für «unverantwortlich»?

Balthasar Glättli: Unverantwortlich sind aus meiner Sicht vor allem die Öffnungen in den Innenräumen. Bereits nach den ersten Öffnungsschritten sind die Zahlen nicht mehr gesunken. Bundesrat Berset hat gestern betont, dass die Hälfte der Hochrisikogruppe geimpft sei. Ich frage: Was ist mit der anderen Hälfte? Warum warten wir nicht wenigstens dies ab?

Bevölkerung und betroffene Branchen leiden unter den Einschränkungen, Coronamüdigkeit macht sich breit. Ist etwas mehr Freiheit angesichts der fortschreitenden Impfkampagne nicht richtig?

Der Bundesrat muss endlich realistisch sichere Öffnungsperspektiven aufzeigen. Dazu gehören klare Richtwerte, inklusive dem Stand der Impfungen. Statt dies zu machen, hat der Bundesrat seine eigenen Richtwerte in den Wind geschlagen und auch für die Zukunft keine bedingten Entscheide getroffen. Es ist diese Unsicherheit, zu der auch der Bundesrat beiträgt, welche die Menschen ermüdet!

Sind die Grünen «Lockdown»-Enthusiasten, die das gesellschaftliche Leben gerne möglichst lange abklemmen?

Ganz im Gegenteil. Die Frage ist nicht: Öffnen oder nicht? Sondern: Wie kommen wir zu einer Situation, in der wir sicher öffnen können? Also öffnen, ohne Ungeimpfte zu gefährden, ohne eine neue Fallexplosion zu provozieren und im Worst-Case bei einem Jo-Jo-Effekt zu landen, bei dem dann nur die Alternativen erneute Schliessungen oder eine Überlastung des Gesundheitssystems übrig bleiben. Internationale Vergleiche zeigen, dass kurze, aber harte Massnahmen sowohl für Wirtschaft wie auch für die Gesundheit am besten wären.

«Die Schweiz geht stattdessen nun Risiken ein ‒ obwohl dank der angelaufenen Impfkampagne eigentlich das Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird.»
Hält die Risiken der Öffnungsschritte für «vertretbar»: Alain Berset (SP).

Hält die Risiken der Öffnungsschritte für «vertretbar»: Alain Berset (SP).

Peter Schneider / KEYSTONE

Die jüngeren Bevölkerungsgruppen werden erst in einigen Monaten geimpft sein. Der Bundesrat spricht mit Blick auf die «relativ stabile» Situation in den Intensivstationen von einem «vertretbaren Risiko».

Tatsächlich beobachten die Spitäler – gerade bei den neuen Varianten, die unterdessen dominieren – dass auch jüngere Patientinnen und Patienten schwere Verläufe haben können. Wer vorher jünger und gesünder war und schwer erkrankt, bleibt zudem tendenziell länger in der Intensivstation. So sinken zwar die Todeszahlen, aber die Überlastung der Intensivbetten steigt dafür dann stärker an. Dies sehen wir bereits in Genf.

Welches Risiko bedeutet der Öffnungsschritt in Bezug auf «Long Covid», also Corona-Langzeitfolgen? Und was könnte das dereinst für die Invalidenversicherung (IV) heissen?

Dass Sie «Long Covid» ansprechen, ist wichtig. Noch immer gibt es hier viele Fragezeichen. Und «Long-Covid»-Symptome treten auch bei Personen auf, welche keinen sehr schweren Verlauf hatten. Wir sollten darum solidarisch versuchen, möglichst viele Infektionen zu verhindern – auch wegen der Belastung der Invalidenversicherung, aber natürlich vor allem wegen der schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen!

Ihre Partei kritisierte den Bundesrat gestern scharf, die SP stellte sich schützend vor ihren Gesundheitsminister Alain Berset. Ist es vorbei mit der rot-grünen Einigkeit in der Coronapolitik?

Wir kämpfen weiterhin gemeinsam für die umfassende und unbürokratische Entschädigung all jener, welche durch die leider notwendigen Einschränkungen massive Verluste erleiden mussten oder weiter erleiden.