Grünen-Nationalrat Michael Töngi kämpft für die Ehe für alle: «Das Coming-Out war viel einfacher, als ich es mir in den Angstmomenten vorstellte»

Michael Töngi war elf Jahre alt, sass vor dem Fernseher und ahnte: Was da läuft, das geht mich etwas an. Über den Bildschirm flimmerte eine Diskussionsrunde zum Thema Homosexualität. Einige Schwulen und Lesben traten nur mit Gesichtsmaske auf. – Aus Angst, erkannt zu werden. Aus Angst vor Diskriminierung. Es war eine Zeit, als sich Leute fragten, ob Homosexualität ansteckend ist. Nach der Sendung mahnten Pfarrer von der Kanzel: Wer sich das angesehen hat, soll es beichten.

43 Jahre später sitzt derselbe Michael Töngi in einem Café in Bern. Er lebt offen schwul, hat seit 20 Jahren einen Mann an seiner Seite und politisiert für die Grünen im Nationalrat. «In keinem anderen Bereich hat sich so viel bewegt», blickt der Luzerner zurück. Konservative Milieus brachen auf, Ehescheidungen und Patchworkfamilien sind Alltag, reaktionäre Teile der Kirche und ihre rigiden Moralvorstellungen führen letzte Rückzugsgefechte.

Töngis Lebenslauf widerspiegelt die letzten Jahrzehnte schwulen Lebens in der Schweiz: Aus der Ecke des angeblich Unzüchtigen hinein in den Alltag, weg vom heimlichen Ausleben in die Mitte der Gesellschaft.

Ein «historischer Moment» steht an, aufreibende Jahre liegen zurück

Der 26. September nun soll der Höhepunkt dieser Entwicklung sein: Die Schweiz stimmt über die Ehe für alle ab. «Ein Ja bedeutet: Gleichberechtigung ohne Wenn und Aber», sagt der 54-Jährige. Es ist auch deshalb die persönlichste Abstimmung seiner Politkarriere. «Es ist ein historischer Moment, der mir nahe geht», sagt der Luzerner Nationalrat.

Denn es mag im Rückblick eine kurze Zeitspanne sein, in der sich enorm viel geändert hat. Für Michael Töngi waren es viele Lebensjahre, in denen er gekämpft hat. Die einst fehlende Akzeptanz hat auch sein Leben geprägt. Es waren Jahre, in denen er seine Identität unter erschwerten Bedingungen finden musste. In denen sich gesellschaftliche Vorstellungen seinem Leben überstülpten. «Es ging nicht schnell», sagt er.

Die 80er waren «beklemmend», Ängste machten die Pubertät schwierig

Michael Töngi, der fröhliche Grüne, wirkt etwas ruhiger, wenn er darüber spricht. Die Abstimmung wühlt ihn auf. In den letzten Monaten hat er seine alten Tagebücher hervorgeholt. Er hat gelesen, wie er betete, dass alles vorbei geht. «Die 80er-Jahre waren beklemmend», sagt er. Spricht er über seine Pubertät, verwendet er schon mal den Begriff «scheusslich». Vorbilder hatte er keine. «In meinem Umfeld gab es niemanden, der schwul war.» Immerfort war da die Frage: Wem und wo sage ich es? Wo setze ich mich fremden Urteilen aus? Töngi sagt:

«Ein Coming-out braucht immer Mut. Ich kenne Leute, die die Kurve nicht gekriegt haben.»

Noch heute kennt er solche Offenbarungs-Momente – in reduziertem Mass. Er nennt es «die kleine Atempause». Wenn er in gesellschaftlicher Runde gefragt wird, was seine Frau mache. Dann spürt er, dass in vielen Köpfen einfach verinnerlicht ist, dass jeder Mann eine Frau hat. «Ich und mein Lebensmodell existieren in dieser Gedankenwelt quasi nicht», sagt er. Er atmet dann kurz durch, und erklärt, dass er mit einem Mann und nicht einer Frau zusammenlebt.

«Was sagt der Pfarrer?», fragte die Mutter

Aufgewachsen ist Töngi auf einem Bauernhof in Kriens. Die älteren Geschwister und ihre Partner waren sehr offen. Im Umfeld der Eltern war sein Coming-out schwieriger. «Was sagt der Pfarrer?», fragte die Mutter. «Aber letztlich war es viel einfacher, als ich es mir in den Angstmomenten vorgestellt habe», erzählt Töngi. Nach ein paar Jahren war seine Sexualität auch bei den Eltern akzeptiert.

Michael Töngi sitzt seit 2018 für die Luzerner Grünen im Nationalrat.

Michael Töngi sitzt seit 2018 für die Luzerner Grünen im Nationalrat.

Peter Klaunzer/Keystone

Inzwischen ist Töngi seit über 20 Jahren mit seinem Partner zusammen. Als Politiker ging er immer offen damit um. «Ich wollte nicht zweigeteilt leben.» Sein Engagement begann in den 90-er Jahren. «Es gab damals viel Wohlwollen», sagt er. Hollywood interessierte sich plötzlich für schwule Paare. Nur Vorbilder hatte Töngi auch hier keine: Es gab bis Anfang der 90er-Jahre schlicht keine offen schwul lebende Politiker.

Die SVP ritt einmal eine Attacke «mit Beigeschmack»

Den einen oder anderen Moment gab es doch, in denen sich Michael Töngi nicht sicher war, ob in der Politik Ressentiments gegen Schwule bestehen. 1999 wurde er Einwohnerratspräsident seiner Wohngemeinde Kriens. Die SVP startete eine Kampagne, fragte, ob er Reden halten könne. «Öffentlich beteuerten alle, dass das nichts damit zu tun habe, dass ich der erste offen schwul lebende Präsident würde», sagt Töngi.

«Aber ein Beigeschmack bleibt. Man weiss nie so recht, ob es ein verklausulierter Angriff ist.»

Was ihm in Erinnerung blieb: 1983 demonstrierten in Luzern Schwulen und Lesben aus der ganzen Schweiz für ihre Rechte. Töngi fuhr vorbei, schaute verstohlen herüber, sein Outing kam erst ein Jahr später. Er hat einen Zeitungsausschnitt aufbewahrt. Die Demonstrierenden führten damals einen Sarg mit, in dem sie die patriarchalen Ehevorstellungen zu Grabe tragen wollten. Sie demonstrierten für die «Abschaffung aller Rechtsnormen, welche aussereheliche Lebensformen unterdrücken, indem sie die Ehe-Familie privilegieren.» Rechte, die vielleicht erst heute umgesetzt werden.

Sie leben seit über 20 Jahren zusammen: Michael Töngi und sein Partner Thom Schlepfer bei den Wahlen 2015.

Sie leben seit über 20 Jahren zusammen: Michael Töngi und sein Partner Thom Schlepfer bei den Wahlen 2015.

Pius Amrein

Er und sein Partner leben seit 20 Jahren zusammen, aber ob sie heiraten?

Ist es nicht auch etwas widersprüchlich, dass heute ausgerechnet die einstigen Kämpfer gegen diese patriarchale Ehe diese umso vehementer fordern? Töngi erzählt, wie er in der schwul-lesbischen Jugendgruppe Anschluss fand, die in Luzern ob der Gassenküche stattfanden; quasi also an den Rand der Gesellschaft verbannt waren. «Ich bin gerne in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ja, es darf sogar noch etwas mittiger werden», sagt Töngi.

«Man muss nicht heiraten. Aber man soll die gleichen Rechte haben. Es geht darum, das tun zu können, was alle anderen, was Heterosexuelle auch tun können.»

Er und sein Partner würden bei einem Ja zur Ehe für alle «nicht aufs Standesamt rennen», sagt er. «Nach 20 Jahren Beziehung habe ich nicht das Bedürfnis sofort zu heiraten.» Für ihn ist die Definition so oder so eine Sache zwischen zwei Menschen. Seit einem Jahr spricht er nicht mehr von seinem Partner, sondern von seinem Mann. «Ich will im so sagen, wie die meisten Heterosexuellen ihrem Lebensgefährten sagen.» Zusammen gewohnt haben sie aber nie, eingetragen ist ihre Partnerschaft auch nicht. Aber sie wollen ohne Diskriminierung heiraten können, wenn sie es denn wollen.

In Ungarn sind die Tendenzen anders – «Es braucht noch Einsatz»

Die Umfragen sagen ein deutliches Ja voraus. «Die gesellschaftliche Entwicklung ist der Politik voraus», sagt der studierte Historiker. Für ihn ist die Abstimmung ein besonders wichtiges Symbol, weil in der Schweiz das Volk entscheidet, nicht ein Parlament oder eine Regierung. Er hofft auf ein starkes Zeichen für eine offene Gesellschaft. Ein Zeichen, das auch ein Signal setzt gegen homophobe Entwicklungen in Ungarn oder Russland.

Und trotz des historischen Moments, der in Griffweite sei: Fertig sei der Kampf noch nicht, sagt Töngi: Er weiss, dass viele Jugendliche und Transmenschen noch immer mit einem Coming-Out hadern. Und die Akzeptanz in gewissen Berufen oder «in typischen Männerrunden wie im Mannschaftssport» sei noch deutlich zu verbessern. «Hier braucht es noch einen Einsatz», sagt Töngi. Er ahnt, dass dies heute nicht nur ihn etwas angeht.