In der Migros wachsen Kräuter und Salate neu direkt im Laden

Co-Gründerin Osnat Michaeli © zvg
Co-Gründerin Osnat Michaeli © zvg

Der rund zwei Meter hohe Glasschrank brummt geheimnisvoll, seine LED-Beleuchtung taucht die Gemüseabteilung in violettes Licht. Was Kunden häufig mit einer Kunstinstallation verwechseln, halten Tech-Investoren für eine Innovation mit Millionenwert. Die High-Tech-Vitrinen ermöglichen das sogenannte «Vertical Farming» – eine Methode, bei der Lebensmittel wetterunabhängig, pestizidfrei und platzsparend angebaut werden.

Auch in der Migros-Filiale in Bülach Süd steht so eine grosse Box. Eine ältere Kundin schaut kritisch hinein. Nach einer ausgiebigen Begutachtung der Pflanzen und einem Geruchstest entscheidet sie sich für einen Strauch Zitronen-Basilikum – Kaufpreis: Fr. 2.20. Nicht nur in Bülach, sondern auch an fünf weiteren Standorten der Migros Zürich (Limmatplatz, City an der Löwenstrasse, Airport, Regensdorf und Illuster in Uster) können Kunden ihrem Essen beim Wachsen zuschauen. Hinter den Glasvitrinen gedeihen derzeit drei verschiedene Sorten Basilikum. Laut Migros Zürich soll das Angebot um Minze, Bergkoriander und Zitronenmelisse erweitert werden.

Der Bauernhof für die eigene Wohnung

Das Konzept stammt vom Berliner Start-up Infarm. Ursprünglich wollte die Israelin Osnat Michaeli mit ihrem Partner Erez Galonska und dessen Bruder Guy ein Café eröffnen. Doch dann kam ihnen im März 2014 die Idee der vertikalen Indoor-Farmen.

Die Idee ist nicht neu, Indor-Farming-Firmen schiessen momentan überall in der Welt wie junge Pflänzchen aus dem Boden. Sie heissen Neofarms, Bowery Farming, Plenty, Aero Farms, Bright Farms und so weiter. Investoren sind dafür offenbar schnell zu finden.

In schrankähnlichen Glaskästen wachsen auf mehreren Regalen Salate und Kräuter. Das spart nicht nur Verpackung und Transportkosten, sondern ermöglicht den Anbau von frischen Pflanzen zu allen Jahreszeiten – sogar von Kräutern, die sonst nur in fernen Ländern wachsen.

Die Setzlinge werden nicht in Erde eingesetzt, sondern in eine dünne Flüssigkeitsschicht getunkt, die alle nötigen Nährstoffe liefert. Von oben spenden LED-Lampen Licht. «Wir schaffen eine Umgebung, in der die natürlichen Wachstumsprozesse so genau wie möglich reproduziert werden, ohne von Klima oder Agrarflächen abhängig zu sein», erklärt Michaeli.

Jeder Wachstumsschritt wird überwacht

Dazu haben die hochtechnisierten Indoor-Farmen zahlreiche Sensoren, die kontinuierlich alle wichtigen Parameter wie pH-Wert, Temperatur, Licht und Nährstoffdichte messen. Jede Farm sammelt unentwegt Daten. Die Startup-Gründerin sagt:

Darüber hinaus sind die einzelnen Farmen über eine Cloud mit der zentralen Plattform von Infarm verbunden, sodass Mitarbeiter die Wachstumsbedingungen der Kräuter aus der Ferne überwachen und steuern können. Sensible Prozesse wie das Bewässern oder die Nährstoffzufuhr laufen vollautomatisch.

Allein drei Jahre habe es gedauert, die von Algorithmen gesteuerten Anlagen zu entwickeln, sagt Michaeli. Inzwischen gibt es über 350 Mini-Farmen in ganz Europa. Zu den Kunden gehören hauptsächlich Supermärkte wie Migros, Intermarché, Metro, Edeka und der Onlinehändler Amazon Fresh, aber auch einige Berliner Restaurants und Bars nutzen die futuristischen Farmen bereits. Das Startup ist derzeit in Deutschland, Frankreich, Luxemburg und der Schweiz vertreten, demnächst auch in Grossbritannien. Bis Ende 2019 soll es europaweit rund 1000 der winzigen Farmen geben.

Das Geschäftsmodell funktioniert so: Migros und Co. kaufen die Setzlinge bei Infarm, tragen die Kosten für Strom und Wasser, müssen sich aber sonst um nichts kümmern. Das Startup stellt und wartet die Gewächsschränke. Für die Ernte kommt zweimal wöchentlich ein Mitarbeiter von Infarm, legt die Pflanzen verkaufsbereit in eine Ablage und setzt neue ein. Pro Pflanze verdient der Laden Fr. 2.20.

Weil die Wurzeln der Pflanzen nicht abgeschnitten werden, leben sie weiter, wenn der Kunde sie zuhause einstellt. Dadurch behalten sie Nährstoffe und Geschmack.

Grossflächiger Anbau wäre möglich

Noch sind die Kästen klein, denn die wenigsten Supermärkte haben viel Platz übrig. Doch anwendbar wäre das System auch grossflächig. So können an einem Standort hunderte Pflanzen und Sorten angebaut werden. Egal ob Früchte oder Gemüse.

Eine Option ist, Parameter wie das Lichtspektrum zu verändern, wodurch andere Prozesse in den Pflanzen ausgelöst werden. Auf diese Weise erzeugen sie andere Nährstoffe, die sich offenbar im Geschmack widerspiegeln.

Was bei Infarm in einem alten Wohnwagen mit Experimenten zur urbanen Pflanzenzucht begann, hat sich durch risikokapitalbasierte Investitionen zu einem Unternehmen mit rund 250 Mitarbeitern entwickelt. Kürzlich sammelte das Startup 100 Millionen Dollar Wachstumsfinanzierung ein, unter anderem von Atomico aus London, einem der wichtigsten Risikokapitalgeber Europas. Rund 1,1 Millionen Schweizer Franken hat auch die Europäische Union im Rahmen des Förderprojekts Horizont 2020 beigesteuert.

Rentiert das tatsächlich? Die Belege fehlen noch

Ob sich Vertical Farming generell bewährt, wird sich zeigen. Für die meisten Firmen wie auch Infarm läuft noch die Testphase. «Für repräsentative Zahlen und wirtschaftliche Aussagen ist es aktuell noch zu früh», erklärt Francesco Laratta, Mediensprecher der Migros Zürich. Die Priorität sei es, Erfahrungswerte zu sammeln, um das Angebot auf die Bedürfnisse der Kunden auszurichten. Bisher sei das Feedback aber positiv. «Vertical Farming trifft einen Verbrauchertrend unserer Zeit, da es den Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit und Regionalität erfüllt», präzisiert Francesco Laratta.

Aktuell konzentriert sich die globale Produktion von Früchten und Gemüse auf nur wenige Klimazonen. In den meisten Fällen befinden sich Herstellungs- und Verkaufsstelle tausende Kilometer voneinander entfernt. Gestapelte Gemüsebeete in Indoor-Farmen könnten die Felder der Zukunft sein – mitten in der Stadt und unter dem Deckmantel einer geheimnisvollen Kunstinstallation.