
Insekten auf dem Rückzug: Retten, was noch zu retten ist
Im Alltag erleben wir sie oft als lästig: Die Wespen, die uns beim Picknick stören, die Fliegen, die uns bei der Veloabfahrt ins Gesicht schwirren, die Stechmücken, die uns ans Blut wollen. Insekten sind omnipräsent, sie sind die artenreichste Klasse der Tiere, und würden sie alle auf eine Waage gelegt, wären sie um ein Vielfaches schwerer als sämtliche anderen Tiere zusammen.
Doch sie sind am Schwinden. Und dies rapide. Das droht schwerwiegende Folgen zu haben, da ihr Leben eng mit demjenigen von Pflanzen und anderen Tieren verknüpft ist. Aufgerüttelt hat vor vier Jahren die sogenannte Krefelder Studie aus Deutschland. Die Beobachtungen zeigten dort, dass innert 27 Jahren drei Viertel der Fluginsekten verschwunden waren.
Aus der Schweiz gab es bereits diverse Studien zu einzelnen Bereichen, aber bislang fehlte eine Übersicht. Gestern präsentierte nun das Forum Biodiversität der Akademie der Naturwissenschaften einen grossen Bericht. Das Fazit ist klar: Die Situation der Insekten in der Schweiz ist besorgniserregend.
Wozu braucht es Insekten?
Insekten bestäuben den grössten Teil der Blütenpflanzen, darunter mehr als drei Viertel der weltweit wichtigsten Nutzpflanzen. Laut einer Studie liefern sie damit einen jährlichen Beitrag von 205 bis 479 Millionen Franken zur Schweizer Landwirtschaft. Und das ist noch nicht alles: Sie sind auch in hohem Masse verantwortlich für die Zersetzung von pflanzlichem und tierischem Material, aus dem fruchtbare Erde entsteht. Eine grosse Bedeutung haben sie ausserdem als Nahrungsquelle für andere Tiere wie Vögel und Fische.
Wie dramatisch ist der Rückgang?
Nur ein kleiner Teil der Insektenarten ist in den Roten Listen der Schweiz erfasst. Von diesen sind 43 Prozent gefährdet und 16 Prozent potenziell gefährdet. Zur Gesamtmenge an Insekten fehlen Zahlen, aber laut dem Autorenteam ist mit einem ähnlichen Rückgang wie in anderen europäischen Ländern zu rechnen – das wäre beispielsweise bei den Fluginsekten ein Rückgang um 75 Prozent in drei Jahrzehnten.

Was zählt mehr, die Artenvielfalt oder die Gesamtmenge?
Es braucht beides. Den meisten insektenfressenden Tieren ist es egal, zu welcher Art ihr Futter zählt. Anders die Blütenpflanzen: Viele werden spezifisch von bestimmten Insekten bestäubt. «Die Vielfalt der Insekten ist gekoppelt an die Vielfalt der Blütenpflanzen», sagt Florian Altermatt, Präsident des Forums Biodiversität.
Auf Bergwiesen wimmelte es im Sommer von Insekten. Wo bleibt der Rückgang?
Die Insektenbestände schwanken von Jahr zu Jahr stark in Abhängigkeit von Wetter und Temperaturen. Bekannt sind etwa sogenannte Wespenjahre. Trends lassen sich deshalb nur erkennen, wenn eine Art über mehrere Jahre beobachtet wird. Der Rückgang betrifft aber auch nicht die gesamte Schweiz in gleichem Masse. Weit fortgeschritten ist er im Mittelland, hingegen ist die Situation in den Voralpen und Alpen noch deutlich besser.
Werden alle Insekten seltener?
Nein, einige weit verbreitete wärmeliebende Arten, darunter viele Tagfalter, sind in den letzten 20 Jahren häufiger geworden – sie profitieren vom Klimawandel. Vermutlich erlitten aber auch sie im 20. Jahrhundert einen Rückgang. Auf dem Vormarsch ist auch der Borkenkäfer, der dank der höheren Temperaturen mehr Nachwuchs zur Welt bringt.
Haben wir bereits ein Bestäubungsproblem?
Warnungen vor einer Insektenapokalypse sind übertrieben. Aber es gibt bereits landwirtschaftliche Kulturen, bei denen die Bestäubung durch wildlebende Insekten nicht mehr ausreicht. In den USA werden beispielsweise Bienen per Lastwagen zu Mandelbaumplantagen gebracht, um die blühenden Bäume zu bestäuben. Das kostet Geld und belastet die Umwelt. Zudem ist es riskant, wenn die Bestäubung von einer einzigen Art abhängig ist – so wirken sich Wetterschwankungen oder Schädlinge stärker aus, als wenn verschiedene Arten beteiligt sind. Auch in der Schweiz führt der Rückgang der Insektenvielfalt dazu, dass die Bestäubung auf weniger verschiedene Arten verteilt ist. Denkbar wäre, dass es dadurch zu vermehrten Ernteausfällen kommt. Es fehlen aber Zahlen, welche diese These bestätigen oder widerlegen könnten.
Was sind die Ursachen für das Insektensterben?
Es mangelt ihnen an geeigneten Lebensräumen. Diese sind vor allem mit der Intensivierung der Landwirtschaft verschwunden. Gleichmässige grosse Felder ohne Hecken und Einzelbäume, ohne Steine und Unebenheiten können gut maschinell bearbeitet werden, bieten aber Insekten wenig Raum. Hinzu kommen Überdüngung und hochwirksame Pestizide. Auch der Klimawandel, invasive Arten und Lichtverschmutzung machen vielen Insekten zu schaffen.
Bringt der Naturschutz nichts?
Seit Jahrzehnten gibt es Bestrebungen, der Natur wieder mehr Platz zu geben. Die Moore stehen längst unter Schutz, Flüsse werden renaturiert, in der Landwirtschaft gibt es Gelder für ökologische Ausgleichsflächen und schonenden Bewirtschaftung. Das zeigt laut Florian Altermatt Wirkung: «Im Mittelland sehen wir auf sehr tiefem Niveau eine leichte Stabilisierung bis Erholung der Insektenvielfalt.» Allerdings ist es sehr aufwendig und schwierig, die Vielfalt wieder zu erhöhen, wenn sie schon geschwunden ist. Altermatt: «Darum ist es umso wichtiger, die momentan noch artenreicheren Lebensräumen, zum Beispiel in den voralpinen und alpinen Gebieten, zu schützen.»
Kennen wir überhaupt alle Insekten der Schweiz?
Keineswegs. Bekannt sind rund 30000 Arten. Das sind je nach Schätzung nur rund die Hälfte bis zwei Drittel der Insektenarten der Schweiz.